Südstaatenromantik mal anders
„Sie haben es vorher getan, sie haben es heute getan, und sie werden es wieder tun. Und wenn sie’s tun, weinen anscheinend nur Kinder.“
Maycomb, Alabama, 1933: Jeremy (genannt Jem) und Jean Louise (genannt „Scout“) Finch leben mit ihrem Vater in einem verschlafenen, kleinen Städtchen mitten im Süden. Jeder kennt jeden, und jeder scheint seinen eigenen Platz (sowie den der anderen) zu kennen. Gemeinsam mit ihrem Freund Dill leben die Geschwister in den sich endlos ziehenden, sonnendurchfluteten Tag hinein. Der zwölfjährige Jem verändert sich seinem Alter entsprechend, seine Schwester Scout ist vorlaut, wissbegierig und alles andere als ladylike. Das einzige, was sie mit Spannung erfüllt, ist das Rätselraten um den mysteriösen Boo Radley von gegenüber: hat er ihnen heimlich die kleinen Geschenke ins Astloch gelegt? Und warum hat ihn seit Jahren niemand das Haus verlassen sehen?
Mit der Ruhe ist es jedoch bald vorüber. Atticus, seines Zeichens Rechtsanwalt, vertritt Tom Robinson vor Gericht – einen Schwarzen, der die älteste Tochter einer ansässigen Familie vergewaltigt und misshandelt haben soll. Die Beweislage ist alles andere als eindeutig, doch die Meinung vieler Anwohner scheint bereits in Stein gemeißelt: der Kerl muss natürlich schuldig sein! Einiges an Zündstoff also für ein Nest wie Maycomb. Schon bald sehen sich Atticus – und schließlich auch Scout und Jem – Anfeindungen gegenüber. Wie wird der Prozess ausgehen? Und was wird Atticus nach all diesen Geschehnissen seinen Kindern mit auf den Weg geben können?
„Man kann einen anderen nur wirklich verstehen, wenn man die Dinge von seinem Gesichtspunkt aus betrachtet – wenn man in seine Haut schlüpft und darin herumläuft.“
Mit Wer die Nachtigall stört… legte die gelernte Juristin Harper Lee einen außergewöhnlichen Roman vor (dem sie über 50 Jahre nach seinem Erscheinen im Jahr 1961 überraschend eine Fortsetzung in Gehe hin, stelle einen Wächter gewidmet hat). Atticus Finch ist eine der faszinierendsten Figuren der Literatur: ein Mann, dessen moralischer Kompass überdurchschnittlich austariert ist, der sowohl Vernunft als auch Empathie besitzt, und dessen Integrität und Rechtsbewusstsein ihresgleichen suchen. Er ist schonungslos ehrlich, klug, und sehr darauf bedacht, seinen Kindern Werte zu vermitteln, von denen sich so mancher auch heute noch eine Scheibe abschneiden sollte. Dabei ist er jedoch nicht so naiv anzunehmen, dass die echte Welt immer seinen Idealen entspricht. Auch wenn er mit seiner Einstellung in der kleinen Gemeinde aneckt, ist er durch und durch ein höflicher Südstaaten-Gentlemen. Er gehört in diesen Mikrokosmos wie alle anderen auch.
Lee erzählt die Geschehnisse aber nicht aus der Sicht von Atticus Finch, sondern durch die Augen der achtjährigen Scout (sie selbst wuchs in den 30er Jahren auf, es lässt sich also vermuten, dass ein großes Stück von ihr in Scout steckt). Frech und offenherzig ist auch sie gegen den Strich gebürstet und möchte sich nicht in das enge Korsett schnüren lassen, welche das weibliche Rollenverständnis ihrer Zeitgenossen für sie vorsieht. Sie hat einige Züge von ihrem Vater, und versucht auf erfrischende und direkte Art und Weise, die Welt um sie herum zu verstehen. Raffiniert kann Lee so die schönen Seiten des idyllischen Südstaatenlebens aus der kindlichen Perspektive zeigen, dem Leser aber gleichzeitig auch nuanciert die Schattenseiten näherbringen. Kaum ein Setting wird so sehr romantisiert und verklärt wie der amerikanische Süden. Doch unter der Oberfläche brodelt es gewaltig: gesellschaftliche und Rassenkonflikte, welche die USA bis heute beschäftigen, stellen die hässliche Seite dieses beschaulichen Fleckchens dar. Und diese spricht der Roman mutig an, ohne je belehrend zu wirken.
„Nachtigallen erfreuen uns Menschen mit ihrem Gesang. Sie tun nichts Böses, sie picken weder die Saat aus dem Boden, noch nisten sie in Maisschuppen, sie singen sich nur für uns das Herz aus der Brust. Darum ist es Sünde, auf eine Nachtigall zu schießen.“
Lee hat ein Panorama des damaligen Kleinstadtlebens im amerikanischen Süden entworfen. Dieses Sittengemälde wird nun in der vorliegenden Graphic Novel visuell umgesetzt. Es handelt sich um den Originaltext (entnommen der einfühlsamen deutschen Übersetzung von Claire Malignon), der von Nikolaus Stingl entsprechend bearbeitet und gekürzt worden ist. Ein umsichtiges Nachwort ordnet die für den heutigen Leser anstößigen Begrifflichkeiten in den Kontext des Zeitgeschehens ein. Bei dem Roman handelt es sich zurecht um ein Meisterstück der modernen Literatur, dementsprechend treu bleibt diese Adaption dem Text. Auszusetzen gibt es daran nichts, denn dieser Text ist wunderschön zu lesen und auch heute noch aktuell und wichtig.
„Dennoch gibt es ein Gebiet in diesem Land, auf dem die Gleichheit aller Menschen unbestreitbar ist. Es gibt eine Institution, die aus dem Armen den Gleichberechtigten eines Rockefeller […] und aus dem Unwissenden den Gleichberechtigten eines Universitätsprofessors macht. Diese Institution, meine Herren, ist das Gericht.“
Es muss sich die Frage stellen, was eine weitere visuelle Umsetzung der Geschichte (neben Robert Mulligans Verfilmung von 1962, in welcher Gregory Peck kongenial den in sich ruhenden Atticus verkörperte) dieser sinnvoll hinzufügen kann. Ein höheres Maß an Abstraktion wäre vielleicht sinnvoll gewesen – eventuell ein expressionistischeres Farbenspiel, um das Lebensgefühl der dort im Süden aufwachsenden Kinder zu spiegeln, oder eine Sepiatönung des gesamten Comic. Tatsächlich bringen die (entfernt an Anime erinnernden), sehr detaillierten Zeichnungen von Fred Fordham die Schönheit des Textes leider nicht ganz auf den Punkt. Das Figurendesign ist (wenn auch simpel) gelungen, das Spiel mit Lichtklecksen und Schattenflecken auf den Bilderbuch-Alleen sehr stimmungsvoll, und ein paar der emotionaleren Momente erhalten seitenfüllende Schaubilder, die etwas von dem Potential durchblitzen lassen, das dagewesen wäre. Allerdings hätte man sich wärmere Farben und mehr Atmosphäre gewünscht, denn trotz aller Professionalität lässt die hier gegebene Ästhetik die Figuren zum Teil etwas steif erscheinen. Bei all den positiv hervorzuhebenden Momentaufnahmen lässt sich der Gesamteindruck der Illustrationen zusammenfassen als etwas steril.
Fazit:
Wer die Nachtigall stört… ist ein zeitloser Klassiker, den jeder gelesen haben sollte. Gleichzeitig ist es aber auch ein Text, der im Medium des geschriebenen Wortes am besten funktioniert. Wenn auch schön gestaltet und sehr gekonnt umgesetzt, lässt diese Graphic Novel den Roman leider nicht für den Leser lebendig werden. Trotzdem ist sie jedem zu empfehlen, der mit Comics eher warm wird und nach einer adäquat eingedampften und visuell untermalten Version auf der Suche ist.
Harper Lee, Fred Fordham, Rowohlt
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