Weites Land

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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonMai 2019

Story

Eine mehrstündige Auszeit für den Leser und eine nostalgische Zeitreise für die Künstlerin. Trotz sozialkritischer Untertöne überwiegt die Leichtigkeit der autobiographischen Geschichte.

Zeichnung

Lebensfrohe und natürliche Pastell-Töne, die sich mit groben Karikaturen kreuzen. Eine Mischung, die erstaunlicherweise gut funktioniert und ebenso harmoniert.

Ein malerischer Blick zurück

Nach der Suche nach Leichtigkeit

Catherine Meurisse verdankt der Pünktlichkeit des öffentlichen Nahverkehrs von Paris ihr Leben. Wieso das? Nun, als sie am Morgen des 7. Januar 2015 eigentlich im Bus sitzen sollte, war es eine schlaflose Nacht, die sie daran hinderte, pünktlich in den Redaktionsräumen des französischen Satire-Magazins „Charlie Hebdo“ zu erscheinen. Ihr unfreiwilliges Fernbleiben der wöchentlichen Konferenz bewahrte sie vor dem wahrscheinlichen Tod. Einen Tod, den zwölf ihrer Kollegen an diesem schicksalhaften Tag fanden, als zwei Attentäter die Räume stürmten und um sich schossen. Von diesem Tag an war nichts mehr, wie es war…

Traumatisiert von diesen lebensverändernden Ereignissen fiel Catherine Meurisse in ein tiefes Loch. Alles, was ihr bisher Freude bereitete, prallte emotionslos an ihr ab. Die unsichtbare Mauer, die sich um sie gebildet hatte, ließ keinerlei Lebensfreude mehr an sie heran. Ein Zustand, den Meurisse unbedingt wieder ändern wollte. In ihrer kraftvollen und emotionalen Traumabewältigung „Die Leichtigkeit“ nahm die Künstlerin den Leser mit auf die Reise, um selbige wiederzuentdecken.

Ihr Nachfolgewerk „Weites Land“ atmet ebendiese Leichtigkeit und führt uns heraus an die frische Landluft. Wir unternehmen eine Zeitreise in ihre Kindheit und lernen ein aufgewecktes und neugieriges Mädchen kennen, das auf erfrischende Art und Weise die Schönheit der Natur entdeckt…

Einfach mal entschleunigen

Gleich zu Beginn sehen wir die gegenwärtige Catherine Meurisse. In ihrer Pariser Wohnung wünscht sie sich eine Tür, die das laute Stadtleben mit einem simplen Durchschreiten verstummen lassen könnte. Gesagt, getan, nimmt die Zeichnerin ihren Stift zur Hand und kritzelt die Umrisse eines Durchganges an die Wand. Gut, DAS ist jetzt nicht die große Kunst und würden die meisten von uns wohl auch noch hinbekommen… anders als die meisten von uns, öffnet Catherine diese aufgemalte Pforte jedoch und schreitet hindurch. Auf der anderen, komplett gegensätzlichen Seite findet sie sich in einem riesigen Feld mit Sonnenblumen wieder. Je weiter sie durch das Blumenmeer watet, desto mehr scheinen die Pflanzen ihr über den Kopf zu wachsen. Tatsächlich aber erleben wir bildlich mit, wie Meurisse zu ihrem kindlichen Ich schrumpft und am Ende des Feldes als kleine Catherine herauskommt. Willkommen in einer Zeit, in der das Zwitschern nicht aus dem Smartphone kam, sondern den Kehlen echter Vögel entsprang. In der statt Feinstaub ein Hauch von Kuh in der Luft lag. In der Fuchs und Hase sich noch… ne, das würde jetzt zu weit führen.

Die Eltern beschließen schon früh, dass Catherine und ihre Schwester in einer ländlichen Umgebung behüteter aufwachsen würden und ziehen mit Sack und Pack aufs Land. Der verfallene Hof, den es wieder auf Vordermann zu bringen gilt und das Zweihundert-Seelen-Dorf stehen im direkten Kontrast zum Leben in der Großstadt. Alles ist hier aufs Nötigste reduziert. Ebenso aufs Nötigste reduziert ist auch der Bau, den die Familie im Idealfall bald bewohnen soll. Ruine würde es noch treffender beschreiben. Das schreit nach einer Menge Arbeit, doch der enthusiastische Vater ist alles andere als eingeschüchtert und sieht das zukünftige Familien-Paradies schon vor seinem inneren Auge. Auch Mutter Meurisse fängt an, in der neuen Heimat Wurzeln zu schlagen… das sogar fast wortwörtlich. Sie pflanzt einen Rosenstock und Akeleien. Ableger von Pflanzen, die schon die Gärten ihrer Eltern und Schwiegereltern verschönerten. Ein Stück alte Heimat auf neuem Terrain.

Catherine und ihre Schwester erkunden die Umgebung und entdecken neben alten Mauern, die reich verziert dir Fantasie anregen, allerlei Schätze, die der unberührte Boden zu bieten hat. Hufeisen, versteinerte Jakobsmuscheln, Schneckenhäuser… all dies - und die Lektüre von Pierre Loti – ermutigen die Geschwister ihr eigenes kleines Museum zu eröffnen. Ganz im Sinne von Schriftsteller Loti, der in seinem autobiographischen „Roman eines Kindes“ eine ähnliche Jugend beschreibt, wie sie Catherine und ihre Schwester erleben. Kein Wunder also, dass die Mädchen auch fleißig aus diesem Werk zitieren.

Doch auch in der Natur ist nicht alles grün, was blüht: Mag die ländliche Idylle auch noch so friedvoll erscheinen, ist der Tod auch hier allgegenwärtig. Er liegt geradezu in der Luft… wortwörtlich. Die Maisfelder werden mit dem Antibiotika-verseuchten Blut geschlachteter Tiere gedüngt, was nicht nur tiefrot illustriert wird, sondern auch einen bestialischen Gestank hervorruft, der der Familie gehörig gegen den Strich geht. Die Tücken der modernen Landwirtschaft. Ebenso wird die Flurbereinigung angeprangert. Weiden und ganze Felder werden bereinigt, Bäume gefällt, Sträucher herausgerissen, Hecken gerodet… Hecken, die Landwirte einst zum Schutz vor Wind und Gerüchen anlegten. Alles wird dem Erdboden gleichgemacht, nur um den größtmöglichen Nutzen zu gewährleisten. Die Gerätschaften werden immer größer. Größere Gerätschaften brauchen mehr Platz. Mehr Platz verspricht eine ausgiebigere Ernte. Da bleibt kein Platz für Grünzeug… der Rubel muss schließlich rollen.

Die bunten Schätze von Mutter Natur

Trotz dieser Schattenseiten ist Catherine Meurisse mit „Weites Land“ eine sehr positive Geschichte gelungen. Eine autobiographische Kindheitserinnerung, die selbst im persönlich unbeteiligten Leser die Sehnsucht nach der Natur weckt und für Fernweh sorgt. Zu schön sind die Abstecher ins Grüne, die kleinen Entdeckungstouren und die herrliche Nostalgie, die die Landluft beinahe direkt in die Nase treibt. Selbstironisch und neugierig stürzt sich das junge Alter Ego der Künstlerin in das abenteuerliche Landleben und scheut sich auch nicht, tiefgründige Gespräche mit einem imaginären Gartenzwerg zu führen, während sie die Kunst für sich entdeckt. Auch die schrulligen Eigenheiten der Dorfbewohner werden beleuchtet, ohne diese jedoch ins Lächerliche zu ziehen.

Der Zeichenstil, dem man anmerkt, dass Catherine Meurisse sich mit Karikaturen auskennt, ist eher grob und skizzenhaft. Ihre Charaktere simpel und cartoonhaft. Die farbenprächtigen Umgebungen hingegen wirken weich und ausdrucksstark. Eine Kombination, in der die Figuren manchmal wie Fremdkörper wirken… was sie ja genaugenommen auch sind! Vielleicht ist es gerade DAS, warum dieser Kontrast so gut funktioniert und nicht aus dem Lesefluss reißt.

Fazit:

Abgesehen von der malerischen und urigen Idylle, die den Leser beschwingt durch den Kurzurlaub auf dem Lande trägt, bekommt man den Eindruck, dass Catherine Meurisse mit dieser Kindheitserinnerung ein weiterer Schritt in die richtig Richtung gelungen ist. Ihre Selbsttherapie, mit der sie sich liebgewonnene Erinnerungen an unbeschwerte Zeiten an die Oberfläche schaufelt, dunkle Kapitel verblassen lässt, um diese mit leuchtenden Gedanken zu überstrahlen, ist ein sicheres Indiz dafür, dass sie ihre Leichtigkeit wiederentdeckt hat.

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