Text:   Zeichner: Luz

Vernon Subutex - Teil Eins

Vernon Subutex - Teil Eins
Vernon Subutex - Teil Eins
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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonJul 2022

Story

Eine fantastische Gesellschaftsstudie ohne Heile-Welt-Schmalz. Mitten aus dem Leben und über das Leben. Schlichtweg großartig.

Zeichnung

Eine experimentierfreudige Odyssee. Hier ist ein Zeichner am Werk, der sein Handwerk versteht und was zu sagen hat.

Überlebenskampf eines Lebenskünstlers

The Passenger (IGGY POP; 1977)

Im Schnellzug des Lebens ist Vernon Subutex ein Passagier ohne Fahrschein. Einst Besitzer eines angesagten Plattenladens in Paris, war er erste Anlaufstelle für Underground-Kenner und die, die es werden wollten. Sein umfangreiches Wissen öffnete ihm Türen in die Branche und Szene-Größen gaben sich bei ihm die Klinke in die Hand. Doch kann kam das Grauen in seiner digitalsten Form und schlug schnell und unbarmherzig zu. Vinyl war tot… und Vernon musste den Laden nach 25 Jahren purer Musik-Leidenschaft schließen. Eine gewisse Zeit konnte er sich noch über Wasser halten. Hier und da ein paar Platten verkaufen, Erstpressungen und andere Sammlerstücke im Netz versteigern… nicht wildes, aber so konnte er wenigstens seine Miete zahlen. Doch irgendwann gab es nichts mehr zu verkaufen.

Alex Bleach, ein alter Freund aus besseren Zeiten, hatte es im Musik-Business geschafft. Fast schon blauäugig stolperte er in den Erfolg und stieg kometenhaft auf. Und da man einen guten Kumpel nicht hängen lässt, hat Bleach die Miete für Vernons popeliges, mittlerweile spärlich eingerichtetes Appartement übernommen. Ein Rattenschiss in der Portokasse, aber für Vernon alles, was ihn noch von der Straße trennt. Doch nun ist Alex tot… ertrunken in der Badewanne eines schäbigen Hotels. High, natürlich. Was für ein erbärmlicher, unrühmlicher Abgang. Mit der Trauer über den verlorenen Freund kommt langsam aber sicher auch die Angst. Kein Alex, keine Miete. Keine Miete, keine Wohnung. Der unaufhaltsame soziale Abstieg. Zwischen gescheiterten Existenzen auf das Pflaster der Stadt der Liebe gespuckt. Doch Vernon hat noch Asse im Ärmel. Nicht umsonst hat er in seinen erfolgreicheren Jahren haufenweise Kontakte geknüpft und Herzen gebrochen. Da sollte sich doch hier und da ein Schlafplatz organisieren lassen, bis wieder bessere Zeiten anbrechen, oder? ODER???

So nimmt Vernon fast schon mit selbstgefährdender Lässigkeit sein Schicksal an, sinniert allein oder in Gesellschaft alter Bekannter über die Vergangenheit und lässt die Subkultur in all ihren Farben über sich hereinbrechen. Dabei hat er keine Ahnung, dass gefühlt halb Paris nach ihm sucht. Er ist nämlich im Besitz von Alex Bleachs Nachlass. Alex hat sich mit einer Videokamera selbst interviewt und Vernon drei Kassetten und einen USB-Stick hinterlassen. Nicht nur die „Hyäne“, eine mit allen Wassern gewaschene Top-Schnüfflerin, ist ihm auf den Fersen, sondern auch ein gescheiterter Drehbuchautor und eine Musik-Journalistin und… wie gesagt, halb Paris.

Too Drunk to Fuck (DEAD KENNEDYS; 1980)

Der Comic „Vernon Subutex“ basiert auf der Roman-Trilogie „Das Leben des Vernon Subutex“ der französischen Schriftstellerin und Filmemacherin Virginie Despentes. 2017 erschien der erste Roman bei KIEPENHEUER & WITSCH in deutscher Übersetzung. 2018 wurde die Bestseller-Reihe mit dem dritten Band beendet.

Bevor Despentes‘ Trilogie-Start 2015 in Frankreich veröffentlicht wurde, galt sie als Enfant terrible der dortigen Literatur-Szene. Ihr 1994 erschienenes Debüt „Baise-moi“ wurde im Jahr 2000 von ihr selbst verfilmt und nach diversen Debatten rasch ins Pornokino verbannt. Ein schmuddeliger Road-Trip voller Sex und Gewalt in Amateur-Optik. Die Hauptdarstellerinnen Raffaëla Anderson und Karen Lancaume (bürgerlich Karine Bach) kamen vom Fach und waren ehemalige Porno-Sternchen. Bach starb 2005 im Alter von nur 32 Jahren an einer Überdosis Schlafmittel. In Deutschland landete „Baise-moi (Fick mich!)“ wenig überraschend nach kurzer Zeit auf dem Index. Der Roman erhielt bei uns den Titel „Wölfe fangen“ (ROWOHLT) und erschien ebenfalls 2000.

2006 konnte sich Despentes mit „King Kong Theorie“ (KIEPENHEUER & WITSCH; 2018) von ihrem Skandal-Ruf befreien, indem die Feministin lautstark austeilte. Autobiographisch berichtete sie von ihrer eigenen Vergewaltigung, rechnete mit Rollenbildern ab und wütete gegen den Männlichkeitswahn.

Für den 2010 erschienenen Roman „Apokalypse Baby“ (BERLIN VERLAG, 2012) erhielt Virginie Despentes im selben Jahr den renommierten Prix Théophraste Renaudot, eine der fünf großen französischen Literatur-Auszeichnungen. Im Buch konnte man bereits Bekanntschaft mit der „Hyäne“ machen. Jene Pariser Schnüffler-Legende, die auch so einige Steine umdreht, bis sie auf die Spur des guten Vernon kommt.

Was die literarischen Werke von Despentes eint, ist der gesellschaftskritische Tenor. Stets am Puls der Zeit, oft hinter die Fassade blickend und stets ungeschönt. Sex, Gewalt - häufig in Kombination miteinander -, Drogen, deren Missbrauch in legaler und illegaler Form, und Kriminalität. In „Vernon Subutex“ sind die meisten Komponenten ebenfalls zu finden. Die Gewalt tritt zwar in den Hintergrund, dafür ist es aber eine Geschichte des sozialen Abstiegs, was nicht minder brutal sein kann. Ein wichtiger Bestandteil ist ganz klar die Musik, die nicht nur schmuckes Beiwerk ist, sondern das ganze Leben der Hauptfigur prägt. Vernon ist Rock ’n’ Roll pur. Er lebt die Musik, nicht nur in seinem Job als Plattenverkäufer und wandelndes musikalisches Lexikon. In Vernons faltigem, verlebten Gesicht lassen sich die kompletten Charts eines Lebens ablesen. Von den Top 10-Acts bis hin zum Straßenmusikanten. Ein gewiefter Lebenskünstler, dessen stoische Lässigkeit sich nicht auf CD pressen lässt. Selbst in größten Momenten der Desillusion, nahe an der Verzweiflungsgrenze, bleibt die Nadel überraschend sicher in der Rille. Und sollte das Chaos, das wir Leben nennen, dann doch mal den Himmel komplett verdunkeln, kann zumindest Vernon sich sicher sein, dass es immer eine B-Seite gibt.

Complete Control (THE CLASH; 1977)

Der französische Comiczeichner Rénald Luzier, kurz Luz, zeichnet vom Leben… oder vom Leben gezeichnete Charaktere. Stimmen würde beides, denn sein gekonnter Strich und die im Buch vorkommenden Beispiele für ein gesellschaftliches Abbild gehen nahtlos ineinander über. Mit reichlich Tusche und lediglich angedeuteter Kolorierung hat der ehemalige „Charlie Hebdo“-Zeichner beeindruckende Bilder voller Details geschaffen, bei denen sich längeres Verweilen durchaus lohnt. Überall lassen sich Kleinigkeiten entdecken. Seien es Plattencover, Flyer oder Popkultur-Reminiszenzen. Für Abwechslung sorgen psychedelische Exzesse, ineinandergreifende Panels oder clever angeordnete Montagen. Luz zeigt auf jeder einzelnen Seite, dass er sich Gedanken gemacht hat und die Story umzusetzen weiß. Man braucht schon ein paar Seiten, um sich in den wilden Stil einzugrooven, doch nach kurzer Zeit ist man dem Sog dieses Mammutwerkes verfallen.

Der REPRODUKT Verlag hat „Vernon Subutex – Teil Eins“ als gebundenes Softcover mit Klappenbroschur herausgebracht. Die 304 Seiten bieten enorm viel Inhalt und so konnte ich eine verdammt gute Woche mit dem wuchtigen Buch verbringen. Ob ich die Wartezeit auf den zweiten Teil aushalte, ohne vorher auf die Romane zurückzugreifen, steht noch auf einem anderen Zettel. Erfreulicherweise ist seit dem 16. Juni 2022 die bereits 2019 produzierte Serie verfügbar. Inhaltlich decken die neun Folgen die ersten beiden Romane ab und sind mit Romain Duris („Dobermann“, „L’auberge espagnole“, „Arsène Lupin“) und Céline Sallette („Die Kammer der toten Kinder“, „Haus der Sünde“, „Der Geschmack von Rost und Knochen“) prominent besetzt. Die Staffel ist ausschließlich digital erhältlich und kann auf dem PRIME VIDEO Channel ARTHAUS+ gestreamt werden.

Fazit:

Der Titel trägt zwar den Namen der Hauptcharakters, quasi der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen, aber „Vernon Subutex“ ist noch so viel mehr. Ein Sittengemälde mit Tiefgang und Gehalt. Aussagekräftig, humorvoll und dramatisch, ohne sich zu sehr in ein Genre zu ergötzen. „Vernon Subutex“ ist nah am Leben, und noch näher an den Menschen, die dort portraitiert werden. Keine leichte Lektüre, aber eine lohnenswerte.

Vernon Subutex - Teil Eins

Virginie Despentes, Luz, Reprodukt

Vernon Subutex - Teil Eins

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