Münchhausen und sein Stellvertreter
Wenn Du Selbstgespräche führst… und niemand antwortet
Im ersten Panini-Sammelband von Donny Cates‘ aktuellem „Venom“-Run, „Symbiose des Bösen“, befand sich der Symbionten-erfahrene Eddie Brock wieder in trauter Zweisamkeit mit seinem „Schatten“. Die Begegnung mit dem Klyntar-Gott Knull, der telepathisch mit einem gigantischen Drachen verbunden war und mit dessen Hilfe New York in Schutt und Asche legen wollte, hat Brock ordentlich zugesetzt. Geschwächt und ohnmächtig hat sich Eddie in ein altes Lagerhaus zurückgezogen. Dort wird er von Männern vom „Anti-Symbionten-Einsatztrupp der Regierung“ aufgefunden.
Als Brock wieder bei Sinnen ist, befindet er sich in einem kahlen, kalten Verhörraum. Sein Gegenüber: Reed Richards. Allerdings nicht der Mr. Fantastic, Oberhaupt der Fantastic Four, den wir von Erde-616 (die Bezeichnung unserer Erde im MARVEL-Universum) kennen, sondern dessen sinisteres Ebenbild von Erde-1610 (der Parallelwelt aus MARVELs „Ultimate“-Universum) … auch bekannt als Maker. Der Maker erklärt seinem überforderten Gefangenen, dass seine Männer ihn schon vor mehreren Wochen in der heruntergekommenen Lagerhalle fanden. Und das auch nur zufällig. Eigentlich waren sie auf der Suche nach einer Probe des telepathisch gelenkten Drachen. Da dieser in Kontakt mit einem Gott vom Planeten Klyntar, Heimat der Symbionten, war, erhoffen sich die mysteriösen Auftraggeber des Makers, dass sie so mehr über die außerirdische Spezies in Erfahrung bringen können. Sie wurden auch fündig, jedoch wurde die Probe aus dem Labor gestohlen… und Eddie soll nun beim Auffinden behilflich sein. Dieser versteht die Welt nicht mehr, kann er sich doch an überhaupt nicht mehr erinnern. Auch nicht, dass er und sein Schatten sich nicht freiwillig in die Hände von Makers Handlangern begeben haben. Eddies „Anderer“ leistete nämlich heftigen Widerstand und tötete vier Männer. Danach ergriff er die Flucht, bis er drei Wochen später bewusstlos im Vorgarten seines Vaters aufgegriffen wurde… in San Francisco.
Wie er dorthin kam? Keine Ahnung… Was sein Schatten dazu sagt? Ebenfalls nicht… denn dieser ist verstummt. Der Maker erklärt, dass der Symbiont durch den Kampf mit dem Drachen von seinem Schwarm getrennt wurde. Immer noch mit Eddie verbunden, handelt die Kreatur nur noch instinktiv. Ist quasi zum schweigenden Wachhund geworden. Zwei Wochen befindet sich Brock nun schon in Gefangenschaft. Eine Tatsache, die sein Symbiont aus seinem Gedächtnis löschte. Und dies ist nicht die Einzige. Vom Maker erfährt er, dass sein Vorgänger Flash Thompson, der ebenfalls mit dem Symbionten verbunden und einige Zeit als Anti-Venom unterwegs war, nicht mehr lebt. Allerdings ist der Maker im Besitz einer Blutprobe von Thompson, die noch immer Spuren des Symbionten beinhaltet. Die Parasiten versehen ihre Wirte mit einem zellulären Abdruck, einem sogenannten Kodex, um Informationen über den Träger an den Schwarm zu übermitteln.
Brock hat nun genug gehört… und instinktiv übernimmt sein „Anderer“ das Kommando. Bei seinem Fluchtversuch nimmt Venom die Blutprobe von Flash Thompson an sich und absorbiert diese. Die hinzugewonnene Kampferfahrung kommt Brock zugute. Mit roher Gewalt kämpft er sich frei. Und mitten in der Raserei meldet sich endlich wieder eine Stimme in Eddies Kopf… allerdings die von Flash Thompson.
Wieder in Freiheit, macht Eddie Brock sich auf nach San Francisco, um dort seinen entfremdeten Dad aufzusuchen. Das Verhältnis der beiden ist seit Jahren mehr als angespannt, da Eddies Vater ihm nie verziehen hat, dass er ihn auf Grund eines zurückliegenden Unfalls in den finanziellen Ruin getrieben hat. Ein dunkler Fleck auf Brocks schmerzbeladener Seele. Schon früh mit Leid und Tod konfrontiert, sah er, wie seine Schwester Mary den Kampf gegen den Krebs verlor, sah, wie sein Onkel von der Krankheit regelrecht aufgefressen wurde… und musste sich der schrecklichen Diagnose einst sogar selber stellen. Was eigentlich eine Aussprache mit seinem alten Herrn werden sollte, entwickelt sich nun für Eddie zu einem wahren Alptraum. Die Antworten, die er erhält, sollen sein ganzes bisheriges Leben auf den Kopf stellen… und seinen Schatten als das zeigen, was er wirklich ist.
Innerlich zerrissen
Thronte in „Symbiose des Bösen“ noch vorherrschend der Horror-Aspekt, rückt in „Der Abgrund“, der die US-Ausgaben #7 – 12 vereint, das Drama in den Vordergrund. Dies funktioniert hervorragend und greift tiefer als die meisten Comics im Superhelden-Genre. Konsequent strickt Autor Donny Cates seine „Venom“-Story weiter und scheut sich auch nicht, gehörig mit dem Status Quo des Charakters zu experimentieren. Er geht sogar noch einen Schritt weiter und stellt die Ursprünge Eddie Brocks ordentlich und ohne Kompromiss auf den Kopf (US-Heft #11), was ich als sehr mutig empfinde. Für so manchen hartgesottenen „Fan“ allerdings zu viel des Guten… denn für Cates hagelte es wüste Beschimpfungen, was wir bereits in der Besprechung von „Symbiose des Bösen kurz angerissen hatten. Sogar Morddrohungen sah Cates sich ausgesetzt… FÜR EINE COMIC-GESCHICHTE! Das muss man sich als Freund der neunten Kunst mal auf der Zunge zergehen lassen. Da ist ein Autor mal kreativ, entstaubt Altbekanntes und knallt einen knüppeldicken Twist raus, den man zwecks neuer Impulse und der Möglichkeiten, die sich daraus ergeben, nur begrüßen kann… und dann sowas. Morddrohungen… sowas kann nur von Leuten kommen, die sich beim Schuhe binden beide Arme brechen und für die es einem Sechser im Lotto gleichkommt, wenn sie die Straße überqueren, ohne dreimal vom gleichen Auto überfahren zu werden. Peinlich und erschreckend… und leider kein Einzelfall, was Bände spricht.
In einem Vor- und Nachwort kommt erneut Christian Endres zu Wort, der den Leser zu Beginn auf den aktuellen Stand bringt, um einen soften Einstieg in den Band zu haben, während am Ende Infos zu den auftretenden Charakteren und den Gastzeichnern folgen.
Bilderrausch
Ryan Stegman und seine beiden Zeichner-Kollegen Iban Coello und Joshua Cassara fahren hier die volle Palette auf. Die Zeichnungen bestechen durch enorme Dynamik und auch bei der Panel- und Seiten-Gestaltung werden alle Register gezogen. Mal klassisch, mal überlappend, mal wie Fetzen herausgerissener Seiten angeordnet oder mit schleimigen Symbionten-Fäden veredelt: Eintönigkeit sucht man hier vergebens. Dazu knackige Splash-Pages, mit einem hellen Schleier versehene Flashbacks und sich abwechselnde Hintergründe. Vom weißen Standard, über tiefes Schwarz, bis hin zu blutroten Ausreißern und dem gänzlichen Hintergrund-Verzicht… hier toben die Künstler sich so richtig aus. Stegmans Zeichnungen sind dabei über jeden Zweifel erhaben und füllen erfreulicherweise den Hauptteil dieses Sammelbandes. US-Heft #7, welches auch den Auftakt bildet, stammt von Iban Coello, der bereits „Venom“-Erfahrung hat und den rasenden Symbionten auf gleich mehreren Seiten beeindruckend zu Papier bringt. Das letzte Kapitel von „Der Abgrund“ geht dann auf das Konto von Joshua Cassara, der das Finale souverän, aber deutlich schwächer als seine Kollegen, über die Bühne bringt.
Selbstverständlich sind zu jedem Kapitel auch die Stegman-Cover-Motive der amerikanischen Hefte abgedruckt. Im Anhang finden sich dann noch zahlreiche Variants von namhaften Künstlern. Darunter Artworks von Frank Cho, Humberto Ramos und Phil Noto.
Fazit:
Die aktuelle „Venom“-Reihe unter Donny Cates erweist sich als glühend heißes Eisen! „Der Abgrund“ entpuppt sich als großartiges Familien-Drama und gerät - trotz gelegentlicher Action-Anteile, die bei Superhelden-Comics ja beinahe unvermeidlich sind und auch zum guten Ton gehören – erstaunlich tiefgründig. Für mich bisher das Beste, was ich in diesem Jahr von MARVEL lesen durfte… und außerdem werden hier bereits die Weichen für ein Event gestellt, welches in den USA bereits in vollem Gange ist. Natürlich wieder aus der Feder von Shooting-Star Cates.
Donny Cates, Joshua Cassara, Iban Coello, Ryan Stegman, Panini
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