Lasziv durch die Swinging Sixties
Leichtes Sodbrennen…
Wenn Künstler, deren Schöpfungen über den Klee gelobt werden und stilistischen Ikonen-Status innehaben, mit ihren größten Arbeiten um die Ecke kommen und in Buchform vor den schweißnassen Händen des Rezensenten darauf warten, fachmännisch analysiert zu werden, tue ich mich persönlich immer etwas schwer damit. Was, wenn mich dessen Erzählungen nicht ansprechen? Was, wenn mich die Figuren kaltlassen? Was, wenn ich nicht DAS in einem Werk sehe, was die Kritiker-Kollegen da gemeinhin in den Himmel loben?
Nun, „Valentina“ war genau so ein Kandidat. Mit mulmigem Gefühl und Grummeln im Magen ging ich den ersten Band der Gesamtausgabe an. Würde man mich mit brennenden Fackeln durch die Dörfer jagen, wenn ich das Ding versenke? Müsste ich stündlich die Glocken von Duisburg läuten und nach meiner holden Esmeralda rufen, wenn ich das Teil in die Tonne kloppe? Könnte ich meinen Kritiker-Hut (samt Schädel) an den Nagel hängen, da ich offenkundig darlegen würde, keine Ahnung von (Erzähl)kunst zu haben? Schwierig, schwierig…
Aber kurz gesagt… Glück im Unglück, denn MIR hat der Band gefallen. Jedoch kann ich nach dem Lesen sagen, dass es durchaus auch anders hätte kommen KÖNNEN. Soll heißen, ich könnte jeden Leser verstehen, der nichts mit Guido Crepax (eigentlich Guido Crepas) und seiner „Valentina“ anfangen kann. Dröseln wir mal auf, warum dem so ist…
Vom Nebengleis ins Rampenlicht…
…oder treffender: Vom Lokalteil auf die Titelseite. Die reizvolle Fotojournalistin Valentina Rosselli trat ursprünglich nämlich nur als Nebencharakter in der Comic-Reihe „Neutron“ auf. Diese drehte sich um den amerikanischen Kunstkritiker Philip Rembrandt, der seine ungewöhnliche Fähigkeit, bei Blickkontakt eine temporäre Erstarrung bei seinem Gegenüber hervorzurufen, für die detektivische Arbeit seines Alter Egos „Neutron“ nutzte. In der zweiten Ausgabe des italienischen Comic-Magazins „Linus“ erschien 1965 die Geschichte „Die Lesmo-Kurve“, in der Rembrandt erstmalig auf die hübsche Mailänderin traf. Bereits erste, flüchtig-zarte Berührungen deuteten an, wo die Reise mit den Beiden hinzugehen vermochte.
Schon bald sollte ein Rollentausch vonstattengehen, der Philipp Rembrandt/“Neutron“ die zweite Geige in die Hand drückte und Valentina aufs vordergründige Podest hob. Die Leser fanden Gefallen an der hübschen Dame mit dem markanten, schwarzen Kurzhaarschnitt und mit dem Wechsel der Hauptcharaktere änderte sich auch der Ton ihrer Geschichten. Besser gesagt, der Ton IHRER Geschichten… den Valentina war seit diesem Zeitpunkt Dreh- und Angelpunkt im crepax’schen Schaffen.
Bekommt der Leser in „Die Lesmo-Kurve“ noch eine halbwegs bodenständige – sieht man von den übernatürlichen Fähigkeiten Rembrandts mal ab – Krimi-Erzählung im Rennfahrer-Milieu präsentiert, gibt die neue Hauptfigur sich in den Folge-Geschichten gerne mal ihren erotischen Tagträumen hin, die auch häufig das Surreale in den Vordergrund rücken. In den Episoden „Venedig und die Geister“ und „Ciao Valentina“ ist davon zwar noch nichts zu spüren, da hier noch das Detektiv-Genre bedient wird, was sich jedoch mit „Valentina – Das standhafte Mädchen aus Papier“ schon schlagartig ändert.
Hier beginnt Crepax erstmals das Innenleben von Valentina zu erforschen. Besser gesagt, er lässt den Leser an der Entwicklung seines Charakters teilhaben… angefangen in jüngster Kindheit. Angelehnt an Hans Christian Andersens „Der standhafte Zinnsoldat“, der im Märchen als Letzter von fünfundzwanzig Ebenbildern gegossen wurde und durch Mangel an Zinn mit nur einem Bein vorlieb nehmen musste, wird ein eben solcher Zinnsoldat der ständige Begleiter der kleinen Valentina des Jahres 1944. In Crepax‘ Geschichte verliert die Figur allerdings durch ein Missgeschick sein linkes Bein. Ist Valentinas Familie hier noch auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, erlebt das Mädchen zu diesem Zeitpunkt schon einschneidende Erlebnisse, die sie mit ihrem einbeinigen Miniatur-Begleiter assoziiert. Im weiteren Verlauf der kurzen – aber eindringlichen – Erzählung, und somit im Heranwachsen von Valentina, wird außerdem „Die Geschichte von den schwarzen Buben“ aus „Der Struwwelpeter“ zitiert, bevor eine gereifte Valentina sich in lebhaften Ausschweifungen in eine zarte Ballerina träumt, die erneut auf Andersens Märchen anspielen, in dem sich der Zinnsoldat in die Papierpuppe einer Tänzerin verliebt. Erste liebevolle Momente, inmitten der rauen Umgebung von Krieg und Tod.
„Das Kind von Valentina“ versinkt anschließend in einem psychedelischen Fiebertraum. Anfangs noch bodenständig und trotz Valentinas erotischer Phantasien noch rational, finden sie und Rembrandt bei einem gemeinsamen Spaziergang einen verlorenen Schuh, um den sie sich eine fiktive Kriminalgeschichte spinnen. Dieser Schuh zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Geschichte, die sich im weiteren Verlauf mit Valentinas Schwangerschaft befasst und sie durch immer bizarrer werdende Alptraum-Szenarien voller sadomasochistischer Handlungen treibt, um schlussendlich in einem grotesken und metaphorischen Finale in der Geburt ihres Kindes zu enden. Kein leichter Stoff, aber geradezu prädestiniert für das Medium Comic.
Die abschließende Episode „Tapfere Valentina“ beginnt erneut in der Kindheit von Valentina. Abwechselnd wird auch der Werdegang von Philip Rembrandt zum Thema gemacht. Über die Jahrzehnte werden Stationen ihres Lebens behandelt, die selbstverständlich erneut mit phantastischen und surrealen Momenten gekreuzt werden. So verschmilzt die Realität mit Lewis Carrolls „Alice im Wunderland“, grätscht in die phantastische Welt von „Flash Gordon“ und wirft Valentina in die abenteuerliche Welt von Lee Falks „Das Phantom“ und „Mandra, der Zauberer“, bevor die kleine Zeitreise im Jahr 1964 endet und fortsetzend auf Valentinas chronologisches Debüt „Die Lesmo-Kurve“ verweist.
Louise + Luisa = Valentina
In „Tapfere Valentina“ lüftet sich auch das Geheimnis von Guido Crepax‘ Inspiration für seine ikonische Valentina. Der studierte Architekt, der neben diversen Werbekampagnen auch Buch und Plattencover gestaltete, verehrte die amerikanische Stummfilm-Schauspielerin Louise Brooks, mit der er auch in Brief-Kontakt stand. Nachdem Regisseur Georg Wilhelm Pabst die Darstellerin mit dem markanten Bubikopf nach Deutschland holte, löste ihre Rolle der Lulu in „Die Büchse der Pandora“ 1929 einen Skandal aus. Mit der schönen Femme fatale wurde erstmals eine lesbische Beziehung auf der großen Leinwand gezeigt, was schnell die Sittenwächter auf den Plan rief. Genau diesen Film, in dem Lulu am Ende zum Opfer des Serienmörders Jack the Ripper wird, schaut Valentina 1956 gemeinsam mit ihrer Mutter bei einem Kinobesuch. Nachhaltig beeindruckt und zu Tränen gerührt setzt Valentina noch am gleichen Abend die Schere an… die nachträgliche Geburtsstunde einer Stil-Ikone und Crepax‘ Verbeugung vor seiner Inspirationsquelle. Zumindest vor einer seiner Inspirationsquellen…
Ein weiteres Vorbild für Valentina dürfte zweifelsohne seine Ehefrau Luisa gewesen sein, die namentlich und auch äußerlich eine gewisse Ähnlichkeit mit Louise Brooks – und somit der Comic-Ikone - aufweist. Luisa Crepax entwickelte als studierte Germanistin sogar eine eigene Sprache, die in den Comics ihres Ehemannes Platz fand. „Die Unterirdischen“, für die diese Sprache genutzt wurde, sollten in kommenden „Valentina“-Stories ihren wiederkehrenden Auftritt haben. Ein weiteres Indiz für die offensichtliche Inspiration durch seine Frau sollte die letzte Doppelseite des Bandes sein. Diese zeigt Luisa Crepax liegend und in Träumen versunken auf einem Bett. Bei einem flüchtigen Blick auf die schwarz-weiß-Fotografie könnte man meinen, Valentina Rosselli hätte eine weitere Wand durchbrochen und wäre lebendig geworden.
Eleganz, Luxus und E*rrrrrrrr*otik
Guido Crepax war seiner Zeit wahrlich weit voraus und fügte Elemente in seine Bildergeschichten ein, die man bisher aus Comics nicht kannte. Eine zeitliche Abfolge, die in ihrer Dynamik an Film-Szenen erinnerte. Er verlagerte seine Geschichten auf unterschiedliche Erzählebenen und gab so selbst den Rhythmus vor. Ähnlich einem Orchester, dirigierte er meisterhaft und losgelöst von den bis dato bekannten Konventionen durch die kreativen Panels. Wo der Musiker mit dem perfekten Gehör sein Metier beherrscht, schien Crepax dieses Patent auf Auge und Gespür gepachtet zu haben. Stets in kontrastreichem Schwarz und Weiß legte der Künstler keinen Wert auf Graustufen. Diese hatten seine kraftvollen Tusche-Zeichnungen auch nicht nötig. Und gerade wenn man dachte, dass man manche Bilder auch schön hübscher illustriert gesehen hat, überraschte Crepax wieder mit einem surrealen Vorschlaghammer, der seinesgleichen suchte. Einzelne Illustrationen ließen sich in seinem Werk auch schwer bewerten. Es waren die fließenden Bildübergänge, die ähnlich der verschwimmenden Grenze zwischen Traum und Realität, die Grenzen des Mediums ausloteten.
Der Vorreiter des Erwachsenen-Comic wurde jahrelang sträflich missachtet, was in Deutschland aber auch an der „Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien“ gelegen haben könnte. Diese war von einigen seiner Werke nämlich nicht sonderlich angetan und verfrachteten „Justine“, „Venus im Pelz“ und die „Geschichte der O“ kurzerhand auf den Index. Ähnlich wie die genannten Werke strotzte auch „Valentina“ vor erotischen Anspielungen, thematisierte SM und kokettierte mit sexuellen Reizen. Die Grenze zur Pornographie wurde aber nicht explizit überschritten… obwohl eine Menge bizarrer Gedanken im Kopf des Künstlers – offensichtlich - versuchten nach außen zu brechen.
Geschichten, die von ihren optischen und handwerklich beeindruckenden Höhepunkten leben, sollten natürlich auch gebührend präsentiert werden. Diese Aufgabe hat der Avant-Verlag übernommen und auch entsprechend gemeistert. „Valentina“ kommt als wuchtig-schweres Hardcover und begeistert schon mit der edlen Aufmachung. Der weiße Hochglanz-Einband wird von dem matten Konterfei der Titelheldin durchbrochen, deren roter Schmollmund – zusammen mit dem Schriftzug – den einzigen farblichen Akzent setzt.
Inhaltlich startet der Band mit einem Essay von Schriftsteller Umberto Eco („Der Name der Rose“), der Guido Crepax und sein Schaffen ausführlich würdigt. Gefolgt von einem bebilderten, mehrseitigen Text von Paolo Caneppele & Günter Krenn, Autoren des Buchs „Film ist Comics: Wahlverwandtschaften zweier Medien“.
Fazit:
Von den luxuriösen Scheinwelten der High Society in die tiefen Abgründe der Seele. Guido Crepax‘ Erotik-Ikone ebnete den Weg für die Erwachsenen-Comics bereits vor über 50 Jahren und hat nichts an Reizen eingebüßt. Psychedelischer Surrealismus paart sich mit übernatürlichen Kräften, detektivischen Ermittlungen und jeder Menge erotischer Phantasien. Absolut (Alb)traumhaft!
Guido Crepax, Guido Crepax, Avant
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