Sittengemälde zum Frohlocken!
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Der französische Schriftsteller Honoré de Balzac (1799 – 1850) ist vor allem durch seinen umfassenden Romanzyklus „Die menschliche Komödie“ („La Comédie humaine“) bekannt, unter dem er (in Anlehnung an Dante Alighieris „Göttliche Komödie“) ab 1842 seine bisherigen Erzählungen und kommende Werke über die französische Gesellschaft jener Zeit versammeln wollte. Aufgeteilt in mehrere Unterkategorien konnte er zu Lebzeiten rund zwei Drittel des geplanten Gesamtwerks herausbringen. Doch zuvor machte Balzac sich daran, nach Vorbild der Novellensammlung „Decamerone“ ein eigenes „Zehn-Tage-Werk“ zu veröffentlichen. 1832, 1833 und 1837 entstanden jeweils zehn Erzählungen, die man noch heute als „Tolldreiste Geschichten“ kennt. Bereits 1855 erstmals vom französischen Grafiker und Maler Gustave Doré illustriert, dutzendfach in Buchform wiederveröffentlicht oder als lose Vorlage fürs bumsfidele Lustspiel „Die tolldreisten Geschichten - nach Honoré de Balzac“ mit der italienischen Erotik- und Horror-Ikone Edwige Fenech, sollte es tatsächlich fast zwei Jahrhunderte dauern, bis die Zwillinge Paul Brizzi und Gaëtan Brizzi sich dieser annahmen und in ihrem ganz eigenen Stil interpretierten.
Und dieser Stil, so viel kann man vorwegnehmen, kann sich sehen lassen! Ähnlich wie bei „La Comédie humaine“, hatte Honoré de Balzac bei „Les contes drolatiques“, wie seine „Tolldreisten Geschichten“ im französischen Original heißen, im Vorfeld zu hoch gepokert. Hundert Geschichten sollten es einst werden, doch lediglich dreißig konnte er vollenden. Eingebettet in eine charmante Rahmenhandlung, durch die der Kaffee-Liebhaber Balzac persönlich führt, haben die Brizzi-Brüder vier Erzählungen ausgewählt, um ihre Leserschaft - mal satirisch bissig, dann wieder leichtfüßig - zu unterhalten.
Es geht über (mittelalterliche) Tische und Bänke
Der junge Mönch Philippe de Mala kommt 1414 nach Konstanz, um dem dort stattfindenden Konzil beizuwohnen. Zwischen Wein, Weib und Gesang fühlt der fromme Bursche sich recht unbehaglich, doch jede moralische Empörung verfliegt, als er „Die schöne Imperia“ erblickt. Wie verzaubert kann er den Blick nicht abwenden und stößt in seiner Verträumtheit mit einem zwielichtigen Gesellen zusammen, der den Mönch ermuntert, durch die offene Tür der Schönheit zu schlüpfen. Tatsächlich wirft Philippe alle Vorsicht über Bord und macht Bekanntschaft mit der Dame von zweifelhaftem Ruf. Imperia, nicht nur reich und hübsch, ist in Konstanz nämlich bekannt… einschlägig bekannt. Dennoch nimmt er ihre Einladung für den nächsten Tag an, ist sie von seiner unbeholfenen Schüchternheit doch entzückt. Als während ihres Treffens unangekündigter Besuch hereinschneit, findet nicht nur bei Imperia ein Umdenken statt… auch Philippe ist im Begriff, sein bisheriges Leben umzukrempeln.
„Die lässliche Sünde“ handelt von der hübschen Blanche von Azay-Le-Ridel, die vom ruhmreichen Kreuzzug-Rückkehrer und frisch ernannten Seneschall Graf von Bruyn zur Gemahlin auserkoren wurde. Der frühere Tunichtgut hatte sich im Laufe seines Lebens wahrlich zum Besseren gewandelt, ließ sich körperlich aber reichlich gehen. Seine agile Gemahlin ist bestrebt, ihm Nachwuchs zu gebären, doch der alternde Graf nutzt jede Möglichkeit, sich vor den ehelichen Pflichten zu drücken… sehr zum Leidwesen von Blanche. Verzweifelt vertraut sie sich einem Geistlichen an. Vor allem, da sie die Blicke nicht vom charmanten Gautier von Montsoreau abwenden kann. Der Mönch mahnt, dass es eine Sünde sei, ohne eheliches Bündnis auch nur an einen Kinderwunsch zu denken! Allerdings erklärt er ihr auch den Unterschied zwischen einer Todsünde und einer lässlichen Sünde… was Blanche auf eine waghalsige Idee bringt.
In „Der Erbe des Teufels“ ist der ehemalige Domherr von Notre-Dame zu Paris Dreh- und Angelpunkt der Geschehnisse. Einst hing ihm sein Publikum bei Predigten an den Lippen, doch nun hat er sich altersbedingt zur Ruhe gesetzt. Ausgesorgt hat er allemal, was in seinen beiden schmierigen Söhnen die Gier weckt. Gegen ein Ableben des Alten hätten der Hauptmann und der Advokat nichts einzuwenden, würde für sie doch ein stattliches Sümmchen als Erbe herausspringen. Doch der Domherr ist zäh. Zu zäh, denn selbst wenn die Erben in spe versuchen nachzuhelfen, schlägt der Alte dem Tod immer noch ein Schnippchen. Sehr suspekt… ist er etwa mit dem Teufel im Bunde? Ratlos suchen die Söhne ihre Tante, die Schwester des Domherrn, auf. Diese setzt wiederum ihren Sohn Chiquon, einen sehr einfach gestrickten Hirten, auf den scheinbar nicht klein zu kriegenden Rentner an. Und der findet Gefallen an seinem gutmütigen Neffen, was für Panik bei den raffgierigen Söhnen sorgt… sehen diese doch schon ihr Erbe dahinschwinden.
Erst kürzlich den Herzog von Burgund geehelicht, hat „Die Frau Konnetabel“ nur noch Augen für einen anderen Mann. Der fesche Charles Savoisy, Sohn des Kammerherrn seiner Majestät, hat der Gräfin derart den Kopf verdreht, dass sie im Halbschlaf unbedacht dessen Vornamen säuselt. Der Konnetabel ist sogleich außer sich und rast vor Eifersucht! Zwar ohne handfeste Beweise, weist er dennoch seine Untertanen an, Ausschau nach Savoisy, dem vermeintlichen Liebhaber seiner Gattin, zu halten. Die verzweifelte Gräfin wird währenddessen auf Schritt und Tritt bewacht. Es gäbe eine Möglichkeit, den Verdacht von ihrem Geliebten zu lenken… doch dafür müsste ein Unschuldiger seinen Kopf hinhalten. Wie weit wird die Frau Konnetabel gehen?
Die Ehre der Brizzis
Paul und Gaëtan Brizzi sind keine unbeschriebenen Blätter, können die französischen Zwillinge doch schon auf eine lange Karriere zurückblicken. Sie führten 1985 Regie beim erfolgreichen Zeichentrickfilm „Asterix - Sieg über Cäsar“ und gründeten anschließend sogar ihr eigenes Studio. Nachdem sie dieses an DISNEY verkauften, arbeiteten sie an mehreren bekannten Projekten für den Mäusekonzern. Darunter „DuckTales: Der Film - Jäger der verlorenen Lampe“, „Goofy - Der Film“, „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Tarzan“. Zuletzt fertigten sie Storyboards für die späte Fortsetzung „Space Jam: A New Legacy“ an. Zu den Comics kamen sie verhältnismäßig spät, jedoch liefern die Brüder in „Tolldreiste Geschichten“ kongenial ab. Die feinen Bleistift-Zeichnungen zeugen in jedem einzelnen Panel vom Können der Künstler. Eine gewisse DISNEY-Nähe lässt sich nicht verleugnen, setzt sich jedoch mit einigen schlüpfrigen Passagen und satirischem Biss ausreichend von einer quietschbunten und heilen Welt ab, sodass die einzelnen Geschichten sehr wohl noch Balzacs Handschrift tragen. Der Lebemann und ausgewiesene Kaffee-Junkie hätte seine Freude an diesen Illustrationen seiner Erzählungen gehabt... 100%ig!
Bereits im Oktober 2023 legt der SPLITTER Verlag nach, denn da hat sich das neuste Werk von Paul und Gaëtan Brizzi angekündigt. Als Comic/Bildergeschichte-Hybrid erscheint mit „Dantes Inferno“ eine weitere Adaption großer europäischer Literatur. Nach „Tolldreiste Geschichten“ ist die Erwartungshaltung entsprechend hoch und ich bin überzeugt, dass die Brizzis auch in Gefilden der „Göttlichen Komödie“ nicht enttäuschen werden.
Fazit:
Frivol und heiter. Die schwungvollen Geschichten konnten mich derart amüsieren, dass ich mir vor Begeisterung in die Beinkleider schiffen könnte. Zeichnerisch ganz weit vorne und einfach nur wunderschön anzusehen. Ein wahrer Quell der Freude!
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