Text:   Zeichner: Sean Murphy

Tokyo Ghost (Complete Edition)

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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonJul 2022

Story

Action-Feuerwerk, dystopische Zukunftsvision, zynische Medien-Satire, toxische Love-Story… sucht euch was aus. „Tokyo Ghost“ ist all das.

Zeichnung

Feine Zeichnungen mit gewaltigem Impact. Murphy setzt die Messlatte extrem hoch.

Dystopie in Sichtweite

Oh, du schöne (künstliche) Welt…

Die Zukunft ist scheiße! Also nicht, dass wir das nicht schon wüssten, aber im Los Angeles des Jahres 2089 sieht es mal so richtig, richtig mies aus. Die Menschen verbringen die meiste Zeit eingestöpselt im Netz und lassen sich von Durchfall in allen Regenbogenfarben berieseln. Die zerstörte Welt um sie herum lässt sie in Scheinwelten flüchten. Sie sind süchtig nach Technologie. Ihrer einzigen Droge in einer kaputten Gesellschaft, in der sich ausschließlich die Machthungrigen und die stetig wachsende Industrie die Taschen vollstopfen. Es gilt das Gesetzt des Stärkeren, und dieses wird mit voller Härte durchgesetzt. Der Medien-Mogul Flak gibt der Menge, wonach sie verlangt. Versorgt sie mit Stoff. Für Recht und Ordnung im Hi-Tech-Chaos sorgen die sogenannten Constables. Die Tech-durchtränkte Knüppeltruppe der Mächtigen.

Einer von ihnen ist Led Dent, der seine eigentliche Identität nach einem schmachvollen Ereignis an den Nagel hängte und sich dem Constable-Programm unterzog. Vollgepumpt mit Nanobots, wurde so aus dem schwächlichen Teddy ein muskelbepackter Beschützer, den sein gnadenloser Ruf schnell vorauseilte. Süchtig wie die Hölle und stets unter Strom, setzt seine Partnerin und Jugendliebe Debbie Decay alles daran, ihren geliebten Teddy wiederzubekommen. Ihr aktueller Job, bei dem sie den wahnsinnigen Davey Trauma, dessen menschlicher Geist in digitalisierter Form das Netz korrumpiert und in jegliches System oder jeden Menschen mit Tech-Anschluss eindringen kann, dingfest machen sollen, soll gleichzeitig auch ihr letzter sein. Raus aus dem Business, raus aus dem Tech-Chaos. Ein sehnlicher Wunsch, der die Tech-freie Debbie an ihre Grenzen bringt. Flak hat allerdings andere Pläne für die beiden.

Das Verhör von Davey Trauma hat ergeben, dass in Tokyo, der einzig Tech-freien Metropole der Welt, das Geheimnis für eine blühende Zukunft schlummert. Die Aussicht auf Nahrung, Wasser und Energie im Überfluss weckt nicht nur das Interesse von Flak, sondern auch seine Gier. Da Tokyo durch ein EMP-Feld abgeschirmt ist, ist es lediglich der Tech-Abstinenzlerin Debbie möglich, dort einzudringen. Sie soll das Feld deaktivieren und Led Zutritt verschaffen, damit dieser dann den Warlord des Paradieses töten kann. Klingt nach einem Himmelfahrtskommando…

Lasst euch nicht „erschlagen“!

„Tokyo Ghost“ ist keiner dieser Comics, die man mal nebenbei zur Hand nimmt - davon abgesehen, dass man für den Brummer eh beide Hände braucht -, um ein wenig darin zu lesen. Dafür ist die Story a) zu dicht, und b) bedarf es einiges an Aufmerksamkeit, um nicht gleich zu Beginn unter die Räder zu geraten. Die Welt der Zukunft prasselt mit voller Wucht auf die Leserschaft herein. Es geht gleich actionreich zur Sache, was sich über mehrere Seiten zieht, und nebenbei werden gleich noch die Hauptfiguren eingeführt. Für Comic-Frischlinge mag dies eine wahre Reizüberflutung sein, doch es lohnt sich, am Ball zu bleiben. Trotz Namedropping und Erklärungen zum futuristischen Setting, inklusive Tech-Details, bleiben weder Story noch Charaktere auf der Strecke. Gerade die Ausarbeitung der beiden Hauptfiguren ist enorm geglückt. Der optische Bombast von Sean Murphy (Zeichner von „Chrononauts“, „Punk Rock Jesus“ und nicht zuletzt der „Batman: Der Weiße Ritter“-Reihe) übertönt nicht die packende Geschichte, sondern lässt der toxischen Beziehung zwischen Debbie und Tech-Head Led Dent (alias Teddy) genügend Freiraum, um die Leserinnen und Leser dichter an ihr Schicksal zu binden.

Trotzdem feuert Murphy hier gnadenlos aus allen Rohren und brennt ein wahres Feuerwerk der schroffen Art ab. Wilde Striche, mit denen er die Dynamik unterstreicht, abwechslungsreicher Panel-Aufbau und stylishes Character-Artwork mit Ecken und Kanten. Kombiniert sieht das schnell, modern und äußerst einladend aus. Die poppige Kolorierung von Matt Hollingsworth trägt nicht zu dick auf und spielt sich trotz futuristischer Neon-Spitzen nie in den Vordergrund. Das erzeugt viel Atmosphäre und sorgt in der Gesamtheit für einen bestechenden Look.

Winken mit Zaunpfählen

Sollen wir das Fass aufmachen und über unsere aktuelle TV-Landschaft reden? Wäre es das überhaupt wert? Wahrscheinlich nicht, denn das, was man abseits von Streamingdiensten serviert bekommt, kann man zu 90% als Opium fürs Volk bezeichnen. Jede Privatsender-Familie hat eine eigene Zuchtstation für arbeitsscheue Selbstdarsteller, die auf der Suche nach der angeblich großen Liebe (und mehr Sendezeit) von Drehort zu Drehort kutschiert werden, stets ein Auge auf den hoffentlich steigenden Insta-Followern. Komplett bedruckt wie bildungsfern, eiern sie um jeden Satz, der möglichst fehlerfrei in die Kamera gegrunzt werden will. Vom Superstar zum charmanten Prinzen, über den einsamen Bauern bis hin zum riemigen Liebeskasper-Nackedei am Traumstrand… alles komplett für die Tonne. Weicht man dem Werbe-verseuchten IQ-Eskapismus ins Netz aus, wurschtelt man sich zwischen Halbwahrheiten und jede Menge weiterer maßgeschneiderter Werbung für Produkte, die wir im Leben nicht kaufen würden, durch Hasskommentare, News-Hysterie und Pannemann-Videos irgendwelcher Schmink-Uschis und Politiker-Zerstörer mit Wasserfarben-Frisur. Neutral ist nichts mehr. Es geht immer nur weiter in eine Richtung: ins Extreme. „Unterhaltung“ nennt sich das heutzutage. Ein Wunder, dass uns nicht allen kochendes Blut aus den Ohren schießt.

Die mediale Dauerbeschallung ist auch ein wichtiger Bestandteil in „Tokyo Ghost“. Autor Rick Remender treibt es mit seinem Comic, der in den Staaten bei IMAGE ab Sommer 2015 erstveröffentlicht wurde, fast mit vorahnender Treffsicherheit auf die Spitze, konnte er zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht ahnen, dass TikTok & Co. uns mittlerweile zielsicher auf ein solches Szenario zusteuern. In seiner mehr als düsteren Zukunfts-Dystopie gibt es Game-Shows, in denen arme Leute das Geld der Reichen zählen, Serien mit tragenden Titeln wie „Wer schiss in mein Auto?“ oder familienfreundliche Sportarten wie Blutball. Was sich im ersten Moment anhört, wie die Herbst-Highlights eines bekannten Senders mit drei Buchstaben, ist ein überspitzes Über-die-Stränge-schlagen, bei dem das Lachen leider im Halse steckenbleibt. Schon lange bevor eine solche Zukunftsvision in Sichtweite rückte, nutzte der Regisseur Paul Verhoeven zynische Seitenhiebe auf die Medien-Landschaft. In „RoboCop“ aus dem Jahr 1987 platzierte er immer wieder Werbe-Breaks für haarsträubende Produkte und ließ Nachrichtensprecher fast schon entspannt die wildesten Gewaltausbrüche vortragen. Eine absichtlich überzeichnete Gesellschaftskritik, die die Verrohung mit dem Holzhammer einläutete. Ähnlich ging der Filmemacher in der umstrittenen (und recht frei angelegten) Robert A. Heinlein-Adaption „Starship Troopers“ vor, die er als action- und effektreiche Militarismus-Satire mit faschistischen Spitzen umsetzte. Was in den 80ern und 90ern noch schockierend wirkte und sogar die Bundesprüfstelle auf den Plan rief, reißt heute kaum noch jemanden vom Hocker. „Starship Troopers“ darf heute bereits von Minderjährigen erworben werden, während die Zukunft der Gesetzesdurchsetzung in ihrer ungeschnittenen Form immerhin erst für Volljährige ihren Dienst antritt. So verwundert es kaum, dass „Tokyo Ghost“ trotz seiner zynischen Übertreibungen und derben Gewaltdarstellungen 2022 kaum noch jemanden mit der Wimper zucken lassen. Ob das ein gutes Zeichen ist, sollte jeder für sich selbst entscheiden…

Fazit:

„Tokyo Ghost“ regt definitiv zum Nachdenken und Reflektieren an. Lässt man die halsbrecherische Action und diverse Sci-Fi-Elemente mal kurz außer Acht, bleibt erschreckend viel Dystopie über, über die wir uns Gedanken machen können. Künstlerisch und inhaltlich in jedem Fall ein großartiges Gesamtwerk. In der „Complete Edition“ von SPLITTER - ausgestattet mit jeder Menge Bonusmaterial - auch haptisch über jeden Zweifel erhaben.

Tokyo Ghost (Complete Edition)

Rick Remender, Sean Murphy, Splitter

Tokyo Ghost (Complete Edition)

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