Text:   Zeichner: Aly Fell

The Kissing Gate - Eine Geistergeschichte

The Kissing Gate - Eine Geistergeschichte
The Kissing Gate - Eine Geistergeschichte
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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonMai 2024

Story

Dramatisch, vielschichtig und bewegend. Eine schöne Geschichte über Verlust und Freundschaft, gepaart mit übernatürlichen Mysterien.

Zeichnung

Wahnsinnig schön und aufwändig gezeichnet. Nicht selten bleibt einem staunend der Mund offenstehen.

Ein ereignisreicher Sommer

„Ich hab mich schon gefragt, wann wir uns treffen.“

Ein eher trauriger Anlass führt Alice Eaton zurück auf das Anwesen The Grange, wo sie einen nicht unbedeutenden Teil ihrer Kindheit verbrachte. Das Leben ihrer Tante Elspeth neigt sich dem Ende zu, weshalb Mr. Goodge, der Anwalt ihrer Tante, Alice kontaktierte. Obwohl ihr letzter Besuch rund zwanzig Jahre zurückliegt, sind die Erinnerungen prägend:

Im Jahr 1936 war Alice gerade zwölf Jahre alt, als ihre Eltern sie wegen eines Kreuzfahrturlaubs kurzzeitig in die Obhut von Elspeth gaben… obwohl das Verhältnis von Alice‘ Mutter zu ihrer Schwester eher als angespannt bezeichnet werden konnte. Alice‘ Aufenthalt verlängerte sich aber tragischerweise auf unbestimmte Zeit, da ihre Eltern nie wieder zurückkehrten. Das Schiff sank. Elspeth, die selber keine Kinder hatte und auch im Umgang mit ihnen sehr ungeübt war, übernahm dennoch die Vormundschaft. So wurde The Grange die neue Heimat von Alice Eaton.

Um dem Mädchen etwas Zeit zu gönnen, den Verlust und die Trauer zu verarbeiten, setzte sie ein Schuljahr aus. Ein einsames Jahr, welches Alice hauptsächlich allein und in Büchern versunken in ihrem Zimmer verbrachte. Bis sie im Anwesen ihrer Tante auf ein weiteres Mädchen traf. Eines Tages saß die gleichaltrige Sophie auf der Treppe, die nach eigenen Aussagen mal dort gewohnt hat. Schnell entstand zwischen den Mädchen eine Freundschaft. Gemeinsam erkundeten sie die staubigen Gänge von The Grange, verkleideten sich mit alten Kostümen oder verbrachten gemeinsame Zeit im weitläufigen Garten. Doch irgendwann begann Alice sich Fragen zu stellen. Darüber, wer Sophie eigentlich war. Denn wenn es um die Vergangenheit des Mädchens ging, oder darum, wo Sophie eigentlich jetzt wohnte, reagierte sie überraschend abweisend…

Wer kann, der kann

Des Rätsels Lösung kommt wenig überraschend, denn die Antwort liefert quasi schon der Untertitel der Graphic Novel von Aly Fell. Eigentlich sollte der „Twist“ aber generell jedem Leser sofort klar sein. Das hat aber nichts mit mangelndem Talent beim Storytelling zu tun, sondern liegt daran, dass der Fokus auf anderen Elementen der Geschichte liegt. Es gibt in der fast schon träumerisch-entspannten Erzählung nämlich noch weitere dramatische Wendungen, die dank des gemäßigten Tempos ihre Wirkung nicht verfehlen. Auch optisch hat „The Kissing Gate“ noch einen besonderen Kniff parat, den ich an dieser Stelle natürlich nicht vorwegnehmen möchte.

Über den generellen Zeichenstil möchte ich aber sehr gerne noch ein paar Worte verlieren, denn der zieht einem echt die Schuhe aus. Die schwarz-weiß-graue Inszenierung könnte schöner kaum sein. Fotorealistische Gesichter und ein unglaublich hoher Detailgrad sorgen dafür, dass man sich in Aly Fells Bildern verlieren kann und möchte. Wer beim Trigger-Wort „fotorealistisch“ jetzt scharf die Luft einsaugt, hat mein vollstes Verständnis, denn nicht selten wirken solche Bilder statisch. Besonders die Mimik der Protagonisten kann darunter leiden, sodass Gesichter schnell mal „eingefroren“ aussehen können. Tatsächlich ist dies hier in einigen Panels ebenfalls zu beobachten, aber die zeitliche Verortung in den 1930er-Jahren lässt mich darüber fast schon hinwegsehen. Vielmehr fühlte ich mich an Bilder und sogar Fotografien aus dieser Zeit erinnert. Ein großer Zugewinn in Sachen Authentizität.

„The Kissing Gate“ war ursprünglich ein KICKSTARTER-Projekt des Künstlers Alastair Fell aus Manchester. Nach jahrelanger Erfahrung in der Animations-Branche (darunter „Danger Mouse“ und „Graf Duckula“) sowie Ausflügen in den Gaming-Bereich (z.B. „LEGO Indiana Jones“), hat Fell bereits 2016 mit dem DARK HORSE-Comic „The Shadow Glass“ für Aufsehen gesorgt. Sein preisgekröntes KICKSTARTER-Debüt gab er 2022 mit „A Trick of the Light“.

Für die deutschsprachige Ausgabe von „The Kissing Gate“, Fells zweitem Crowdfunding-Projekt, sicherte sich der Schweizer Verlag SKINLESS CROW die Rechte. Sind die Veröffentlichungen des Verlags meist im US-Format (abgesehen von den übergroßen Omnibus-Bänden von „Harrow County“), kommt die auf 444 Exemplare limitierte Auflage von „The Kissing Gate“ im klassischen Hardcover-Albenformat. Diese Wahl ist allein auf Grund der fantastischen Zeichnungen nur zu begrüßen!

Fazit:

Das namensgebende „Kissing Gate“ ist ein mit einem Federmechanismus ausgestatteter Durchgang, der zwei Areale voneinander abtrennt bzw. miteinander verbindet. Ähnlich einem U-Bahn-Drehkreuz, lässt die Konstruktion stets nur eine Person passieren. Diese Vorrichtung ist zwar auch in der Geschichte präsent, dient aber zeitgleich auf mehreren Ebenen als Metapher. Aly Fell hat sich durchaus Gedanken gemacht, was das vordergründig schlichte Drama viel tiefschichtiger macht, als man meinen könnte. Herausgekommen ist eine bewegende Geschichte in unfassbar schönen Bildern.

The Kissing Gate - Eine Geistergeschichte

Aly Fell, Aly Fell, Skinless Crow

The Kissing Gate - Eine Geistergeschichte

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