Geh ins Licht, Carol Anne… äh, Will!
Von Fan zu Fan zu „Fan“
Auf Netflix ist mittlerweile die dritte Staffel des Mystery-Hits im Nostalgie-Gewand abrufbar und Fans, die noch nicht die Zeit gefunden haben, um sich die neusten acht Folgen zu geben, tappen vorsichtig durch ein Minenfeld, genannt Internet. An diesem mysteriösen Ort (vergleichbar mit der „Anderen Seite“) tummeln sich nämlich garstige Gesellen, die meinen, dass man sich nicht als „Fan“ bezeichnen dürfe, wenn man eine Serie oder einen Film (siehe „Avengers: Endgame“, „Game of Thrones“ etc.) nicht innerhalb der ersten 24 Stunden nach Veröffentlichung gesehen hat und es deswegen vollkommen legitim wäre, wichtige Details bereits nach kurzer Zeit in die Welt - oder ins Netz - zu posaunen. So wurde ich damals in einem „Twin Peaks“-Forum mit einem nicht unerheblichen Ableben in „Star Wars: Das Erwachen der Macht“ überrascht. Wohlgemerkt am gleichen Tag, an dem der Streifen in den Kinos anlief! Herzlichen Dank, Du VOLLIDIOT!!! Dafür, dass Du mir mit drei simplen Worten ein Filmerlebnis zerstört hast. Im Störungsforum meines Internet-Anbieters wurde ich dann mit dem Ende von „Avengers: Endgame“ konfrontiert. Da muss ich die Schuld aber eindeutig bei mir suchen, da der Film zu diesem Zeitpunkt schon zwei Tage in den Lichtspielhäusern zu sehen war… nun, ich bin anscheinend kein „Fan“, also Schande über mein Haupthaar. Was für Säcke, ey…
So gemein sind WIR natürlich nicht und werden keine Details zur dritten „Stranger Things“-Staffel verraten. Ganz im Gegenteil… wir gehen noch mal ein paar Jahre zurück - genauer gesagt ins Jahr 2016 (nach Christus) – und widmen uns dem Zeitraum, in dem der 80er-Hype seinen Anfang nahm: der ersten Staffel.
JEDER liebt Rollenspiele!
Die Einen die, mit Stift und Zettel, wo ein Spielleiter durch die Partie führt und mit einem 84-eckigen Würfel ausgeknobelt wird, welchen Zauberspruch man denn nun aus dem imaginären Mützchen zieht und die Anderen die Rollenspiele, mit… hier, mit… äh, äääähm… ja, lassen wir das. Jedenfalls gehört Will Byers (noch?) zur ersten Kategorie und verbringt leidenschaftlich gerne die Zeit mit seinen Freunden Mike, Dustin und Lucas. Gemeinsam sitzt man angespannt im Keller von Mike Wheelers Elternhaus und kloppt sich gepflegt durch eine Runde „Dungeons & Dragons“ (wir Cracks nennen das ganz lässig „D&D“… wobei mir einfällt, dass ich das noch nie gespielt habe. Egal…). Auch der launigste Abend findet mal ein Ende und so schwingen die Jungs sich auf ihre Fahrräder und treten den Weg nach Hause an. Als Will durch das abendlich-dunkle Hawkins radelt, nachdem er sich von seinen Freunden verabschiedet hat, steht plötzlich jemand vor ihm auf der Straße. Jemand oder… etwas? Erschrocken reißt der Junge den Lenker seines Rades herum und stürzt die Böschung neben der Fahrbahn hinab. Kurz zweifelnd, ob seine Augen ihm nicht vielleicht einen Streich spielten, rappelt Will sich wieder auf und sieht erneut das Wesen, das anscheinend seine Spur aufgenommen hat. Er rennt durch den angrenzenden Wald, direkt zum Haus, in dem er mit seiner Mutter Joyce und seinem älteren Bruder Jonathan lebt. Niemand da. Alles dunkel. Das Telefon… funktioniert nicht. Außer irgendwelchen verzerrten Geräuschen ist nichts zu hören. Will rennt in die Garage, wo er mit zitternden Händen die alte Familien-Flinte durchlädt. Mit dem geladenen Gewehr im Anschlag, zielt der Junge auf die Tür. Irgendetwas schleicht ums Haus und wenn es ihn gewittert hat, will er vorbereitet sein. Eigentlich ein guter Plan… doch die monströse Bedrohung befindet sich schon längst im Raum und baut sich hinter Will auf. Dann ist alles ruhig. Die Garage ist leer, als wäre nie jemand dort gewesen… und Will ist fort.
An dieser Stelle setzen die sphärischen Synthie-Klänge ein, die „Stranger Things“ mit leuchtend-roten Lettern eröffnen. Ab hier beginnt die Suche nach Will Byers, die ganz Hawkins auf Trab hält und seine Mutter Joyce an den Rande der Verzweiflung bringt. Hier beginnen Wills Freunde - Mike, Dustin und Lucas – die Sache selbst in die Hand zu nehmen und Schreckliches aufzudecken, während Chief Jim Hopper bei seinen Ermittlungen auch immer tiefer in die Geheimnisse der Kleinstadt eindringt. Und hier beginnt auch der Comic, der die Erlebnisse aus der Sicht von Will Byers schildert…
„Walk in silence. Don’t walk away, in silence. See the danger. Always danger. Endless talking. Life rebuilding. Don’t walk away…“ (Joy Division – „Atmosphere“)
Will befindet sich noch immer in Hawkins. Noch immer in seiner vertrauten Umgebung, doch… irgendwas ist anders. Irgendwas stimmt hier ganz und gar nicht. Ein fauliger Gestank liegt in der Luft, verpestet die Nacht und schleimige Wucherungen überziehen alles Sichtbare. Als hätte sich eine mysteriöse Infektion über die Realität ausgebreitet. Die unwirtlich-unwirkliche Landschaft wirkt wie ein düsteres Echo der Welt, wie Will und auch wir sie kennen. Ausgerüstet mit einer defekten Taschenlampe und dem Gewehr aus der Garage, wagt er sich in den Wald vor, der auch ohne die Zugaben der angsteinflößenden Spiegelwelt genug Unbehagen hervorrufen könnte. Den seltsamen Lichtern, die zwischen den Bäumen aufblitzen, folgend, entdeckt der Junge ein umherirrendes Mädchen. Schemenhaft, wie ein Geist, scheint sie beinahe durch die Nacht zu schweben. Nur mit einem T-Shirt bekleidet, die Haare kurzgeschoren… dann verschwindet sie im Nichts. Doch sie hat ihn gesehen. Sie MUSS ihn gesehen haben. Wer auch immer sie war, sie scheint die größte Hoffnung auf Hilfe zu sein.
Dann hört Will, wie jemand seinen Namen ruft. Weit entfernt, nicht definierbar aus welcher Richtung. Er beschließt, zum sichersten Ort zu gehen, den er kennt: nach Hause… auch wenn das, was er in dieser Welt vorfindet, nur ein verzerrtes Abbild von dem ist, was er kennt und wo er sich geborgen fühlt. Versteckt unter seinem Bett, greift Will zu seinem Walkie-Talkie, mit dem er sonst regelmäßig mit seinen Freunden kommuniziert. Tatsächlich bekommt er ein Signal. „Mom…?“ Ist das Wills Mutter, die er da abgehackt zwischen Störgeräuschen am anderen Ende hört? Keine Zeit es herauszufinden… noch nicht, denn die grausige Kreatur, die Will Byers aus seiner Welt riss, hat ihn erneut ausgespürt. Und erneut stellt er sich ihr entgegen. Er legt an… zielt… und drückt ab. Er schießt so lange, bis das Klicken des Hahns ihn daran erinnert, dass er sämtliche Munition abgefeuert hat. Der Raum ist leer. Das Monster weg. Will beschließt zu warten. Als er sich in Sicherheit vor dem fremdartigen Wesen glaubt, macht er sich auf in Richtung Stadt. Vielleicht bekommt er dort ein besseres Signal, um mit der Anderen Seite… um mit seiner Mutter in Kontakt zu treten.
Plötzlich durchzieht ein greller Schrei die Nacht! Es hört sich nach einem Mädchen an, das um Hilfe ruft. Will Byers spurtet los, folgt dem Kreischen bis zur vermeintlichen Quelle seines Ursprunges. Im Garten eines Hauses steht er vor dem leeren Swimmingpool, dessen Boden ebenfalls mit einer schleimigen Masse bedeckt ist. Von dem hilferufenden Mädchen fehlt jede Spur. Aber… was liegt dort auf dem Beckenboden? Eine… Brille?
Ergänzungslektüre
Es muss gesagt werden, dass sich der Comic an die Leser richtet, die mindestens die erste Staffel von „Stranger Things“ gesehen haben. Dies ist unabdinglich, um der Handlung zu folgen. Gut, SO viel Handlung gibt es in der parallel-spielenden Bildergeschichte leider nicht, trotzdem ist es ganz nett, das Geschehen der ersten Folgen aus dem Blickwinkel von Will Byers zu sehen, der angsterfüllt durch das marode und düstere Abbild unserer Realität irrt und versucht, Kontakt zur Anderen Seite – also UNSERER Seite – aufzunehmen.
Auf die 80er-Jahre-Atmosphäre, die die Serie so zur Fundgrube für Nostalgiker gemacht hat, muss man hier weitestgehend verzichten, da die bedrohliche Parallelwelt vor allem durch Kargheit und schleimüberzogener Sterilität „glänzt“. Ein Filmplakat von „Der weiße Hai“, der Einsatz von Walkie-Talkies und die urigen Innenausstattungen sind die einzigen Reminiszenzen an vergangene Zeiten.
Der italienische Zeichner Stefano Martino, der zuvor schon George R. R. Martins vierteiligen Comic „Doorways“ für IDW, „Nosferatu“ und Teile der „Die Legende der Drachenritter“-, „Orks & Goblins“- oder „Die Meister der Inquisition“-Reihen illustrierte, fängt die bedrohliche Atmosphäre der „Anderen Seite“ angemessen ein und lässt den Leser mit Will mitfiebern. Gekonnt und äußerst abwechslungsreich werden „D&D“-Momente in die Handlung integriert und lassen die konstante Dunkelheit hin und wieder aufklaren. Die Charaktere ähneln dabei ihren TV-Pendants, gewinnen jedoch keinen Schönheitspreis. Dafür ist Martinos Zeichenstil zu grob und statisch.
Jody Houser („Star Wars: Rogue One“, „Doctor WHO“, „Supergirl“) ist für die Story der vierteiligen Dark Horse-Mini-Serie verantwortlich, die eigentlich schon durch die Netflix-Serie vorgegeben war, nun aber aus anderer Sicht geschildert wird. Dabei gelingt es ihr sehr gut, die Parallelen zum großen TV-Bruder herauszuarbeiten und wichtige Momente – wie zum Beispiel die Kommunikation mit unserer Welt und das Aufeinandertreffen mit „Elf“ – zu thematisieren.
Panini Comics fasst in „Stranger Things: Die Andere Seite“ alle vier US-Hefte zusammen und bietet neben dem Softcover-Paperback auch noch eine auf 444 Exemplare limitiere Edition im Hardcover an. Neben kleinen Biografien des Autoren/Künstler-Gespanns, liefern die Extras noch die regulären Cover sowie die Variant-Motive der Dark Horse-Ausgaben. In den USA ist mit „Stranger Things: Six“ bereits die zweite Comic-Mini-Serie gestartet, die ebenfalls von Jody Houser geschrieben wurde und erneut vier Ausgaben umfassen wird. Für die Illustrationen war dabei diesmal Edgar Salazar zuständig. Ende 2019 darf man dann mit einem Sammelband im deutschsprachigen Handel rechnen.
Fazit:
Dass Will Byers hier auf Solo-Pfaden unterwegs ist, ist von der Story vorgegeben und dementsprechend unabdinglich. Autorin Jody Houser hat dennoch einen kreativen Weg für gemeinsame Momente mit Mike, Dustin und Lucas gefunden, die von Zeichner Stefano Martino auch clever integriert wurden. Ansonsten eine solide Ergänzung zur ersten „Stranger Things“-Staffel, die man als Fan allein schon aus Komplettierungsgründen im Regal stehen haben sollte.
Jody Houser, Stefano Martino, Panini
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