Was wäre, wenn? Schneewittchen-Edition
Es war einmal...
… eine wunderschöne junge Frau, die sich unsterblich in einen König verliebte. Als sie endlich heirateten und die junge Frau in den Palast einzog, war sie überglücklich. Doch die Tochter des Königs, ein bildhübsches Mädchen, war der jungen Frau von Anfang an nicht geheuer. Sie hatte spitze Zähne und war so blass wie Schnee. Eines Nachts kam das Mädchen zu ihrer neuen Stiefmutter und biss dieser in die Hand, sodass sie blutete. Als die Stiefmutter die Hand wegzog, lachte das Mädchen nur. Danach hielt sich die Stiefmutter von dem Mädchen fern, und als der König unter mysteriösen Umständen verstarb, schickte die Stiefmutter – die nun Königin geworden war – das Mädchen fort und Jäger hinterher, die ihr das Herz des Mädchens bringen sollten. Und woher wusste die Königin, dass die Jäger ihr das richtige Herz brachten? Nun ja, wessen Herz sonst würde noch schlagen, nachdem es herausgerissen wurde?
So weiß wie Schnee, so rot wie Blut
Wie um aller Liebe haben wir noch keine Adaption des Märchens von Schneewittchen bekommen, in der Schneewittchen nicht ein Vampir ist?! Wir hatten schon die Disney-Version, wir hatten ein kämpferisches Schneewittchen im Film mit Kristen Stewart, wir hatten sogar eine Parodie mit Otto Waalkes und Nina Hagen! Und wenn wir schon Hänsel und Gretel zu Hexenjägern machen konnten, warum habe ich noch nie einen Film oder eine Serie gesehen, in der Schneewittchen ein Vampir ist?!
Wer sich auch mal diese Frage gestellt hat, wird mit „Snow, Glass, Apples“ fündig. Die Künstlerin Colleen Doran hat die 1994 geschriebene Kurzgeschichte von Neil Gaiman als wunderschöne Graphic Novel adaptiert. Wobei hier vielleicht der Begriff Bilderbuch vielleicht passender ist. Denn eine „normale“ Graphic Novel mit Panels und Sprechblasen ist „Snow, Glass, Apples“ definitiv nicht. Es gibt kaum Dialoge, die Geschichte wird fast ausschließlich aus der Perspektive der „bösen Stiefmutter“ erzählt. Ihre Erzählung wird in kleinen Textboxen vermittelt, die unterschiedlichst auf den Seiten platziert sind. Wenn es mal Sprechblasen gibt, ändert sich die Schriftart in diesen Passagen. Während der Erzähltext der Protagonistin in einer sehr geschwungenen – und sehr märchenhaften – Serifenschrift dargestellt wird, ist die Schrift in den Sprechblasen eher Comic-typisch.
Glasmalerei, aber auf Papier
Der Fokus in „Snow, Glass, Apples“ liegt eindeutig in den Bildern. Sie sind unfassbar kunstvoll und wunderschön. Die Bilder sind immer als großes Ganzes zu sehen, die eine gesamte Szene darstellt. Da wir aber keine Panels haben, könnte man meinen, dass die Ereignisse wild durcheinander geraten. Doch Doran schafft es, dass die Figuren oder Elemente innerhalb des Bilds als „natürliche“ Grenzen fungieren. In der Szene z.B., in der Schneewittchen ihre Stiefmutter in die Hand beißt und ihr Blut trinkt, wird auf der einen Seite der ausgestreckte Arm der Stiefmutter als „Panel“ genutzt, um die einzelnen Schritte von der Ankunft Schneewittchens bis hin zum Biss voneinander zu trennen. Auf der nächsten Seite übernimmt der wallende Umhang der Stiefmutter diesen Job.
Doran garniert ihre Bilder außerdem mit wunderschönen Rahmen. Mal sind es „natürliche“ Rahmen wie Schneeflocken, Ranken oder Blüten. Manchmal sind es geometrische Gebilde, die ein bisschen wie kleine Mandalas aussehen. Diese Rahmen geben den Bildern eine Ästhetik, die an Glasmalerei erinnert. Unterstützt wird diese Ästhetik durch die Kolorierung. Doran schafft es, eine gewisse Balance zwischen satten, kontrastreichen und die etwas dezenteren, fast blassen Farben zu finden, die sie immer wieder in den Bildern vermischt. In der Szene, in der die Königin die vergifteten Äpfel vorbereitet, die Schneewittchen vernichten sollen, dominieren Pastelltöne. Die Figur der Königin in der Mitte des Bildes aber trägt einen blutroten Umhang und ein schwarzes Kleid. Dadurch wird der Fokus eindeutig auf die Figur in der Mitte gelegt, die Pastelltöne aber geben dem ganzen einen magischen Look, ohne „böse“ zu wirken.
Behind The Scenes
Die Splitter-Ausgabe von „Snow, Glass, Apples“ beinhaltet aber nicht nur diese großartige Adaption, sondern auch noch ein kleines Extra. Am Ende des Bands bekommen wir einen kurzen Einblick in die Arbeitsweise der Künstlerin Colleen Doran. Dieser lohnt sich nicht nur wegen der interessanten Skizzen und halb tuschierten Zeichnungen. Die Künstlerin selbst erzählt ein bisschen über ihre Arbeitsweise und wie die Werke – u.a. seine Buntglas-Bilder – vom irischen Künstler Harry Clarke sie nicht nur in ihren Zeichnungen, sondern auch in der Kolorierung inspiriert haben.
Fazit:
„Snow, Glass, Apples“ ist alles, was ich von einer Neil-Gaiman-Adaption erwarte. Seine düstere, mystische Story wird von Colleen wunderbar ins visuelle Medium der Graphic Novel übertragen. Ihre ganzseitigen Bildkompositionen haben etwas Magisches an sich. Man erkennt auf jeder Seite, dass sie von Glasbildern inspiriert wurde, denn die Bilder sehen aus, als müssten sie eigentlich an der Fassade einer alten Kirche bewundert werden. Aber auch in Papierform haben sie eine Wucht, die mich fasziniert. Kein Wunder, dass „Snow, Glass, Apples“ 2020 nicht nur den Eisner Award für beste Adaption, sondern auch den Bram Stoker Award 2019 für beste Graphic Novel einheimste.
Neil Gaiman, Colleen Doran, Splitter
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