Wenn einer eine Reise tut…
Tag der Fehlschläge
Wie beschissen kann ein einziger Tag eigentlich werden? Wie viele Überraschungen und negative Entwicklungen können sich anhäufen, bis es schon fast lächerliche Züge annimmt und man vermuten könnte, dass „der da oben“ persönlich einen schlechten Tag hat und dies nun an einer einzigen Person auslässt? Tja, eine dieser Personen ist Germano. Seine desaströsen Erlebnisse könnten ein ganzes Buch füllen. Glücklicherweise hat diese Aufgabe jemand für ihn übernommen…
Germano Mastorna ist mit dem Zug in einen kleinen Ort in der süditalienischen Provinz gereist. Dort will er seine Tochter besuchen, die dort eine Kunstausstellung eröffnet. Einen „besseren“ Tag hätte er sich wohl kaum aussuchen können, denn schon die Anreise verläuft katastrophal. Mit sechs Stunden Verspätung kommt er am Bahnhof an. Dafür sorgten ein Streik und technische Probleme, die den Zug für mehrere Stunden auf freier Strecke festsetzten. Und das bei einer brütenden Hitze, die alles in den Schatten stellen würde, hätte es ein schattiges Plätzchen gegeben. So ist Germano bereits nach der abenteuerlichen Ankunft recht zerknirscht und ausgelaugt. Vor Ort ist von der Tochter keine Spur und telefonisch ist diese ebenfalls nicht zu erreichen. Was will man machen… er konnte wohl kaum erwarten, dass sie sechs Stunden unter der sengenden Sonne auf die Einfahrt des Trümmerhaufens, der sich Zug nennt, wartet. So muss es nun zu Fuß weiter zum Hotel „Zia Piera“ gehen. Einen schweißtreibenden Marsch durch die Natur später, erwartet den frisch Angereisten gleich die nächste Überraschung: Sein Zimmer wurde anderweitig vergeben. Und das Hotel ist restlos ausgebucht.
Oh Mann, was folgt denn noch? Ich sag’s Euch: Im Hotel findet eine rauschende Hochzeitsfeier statt. An erholsamen Schlaf wäre nach diesem chaotischen Tag dann wohl eh nicht zu denken gewesen… selbst mit Zimmer und ohne Schlafmöglichkeit auf dem Foyer-Sofa. Zu allem Überfluss ist der Bräutigam kein Unbekannter. Es ist Germanos alter Fußball-Kumpel Vico.
Nacht der Wiedergutmachung
„Kumpel“ ist allerdings arg übertrieben, denn der großmäulige Vico war damals schon ein Kotzbrocken… woran sich nicht viel geändert hat. Als Teilhaber des „Zia Piera“ scheint Vico finanziell auf der Überholspur, während Technik-Verweigerer Germano erst kürzlich mit seinem eigenen Bio-Betrieb Konkurs anmelden musste. Während dieses Debakels entstand ein YouTube-Video, das Germano unfreiwillig Popularität bescherte und dank Vico nun wieder die Runde macht… und nicht nur auf Zustimmung stößt. Party-Time!!!
Dass der Bräutigam, der freilich nicht zum ersten Mal vorm Traualtar stand und den überrumpelten und verschwitzen Germano überfallartig auf die Party zerrte, mit dieser Spontan-Entscheidung doch noch was Gutes in Gang setzte, konnte niemand ahnen. Vor allem nicht Germano. Denn dort lernt er die sympathische Elena besser kennen, die er zuvor nur flüchtig im Foyer traf. Eine von Vicos Ex-Frauen, die noch immer im freundschaftlichen Verhältnis zu ihrem Verflossenen steht. Zwischen diversen Verwicklungen mit Hotel-Personal und angesoffenen Pöbel-Gästen entstehen in dieser Nacht eindringliche Gespräche, zarte Momente und ein abenteuerlicher Trip durch den weitläufigen Park des Hotels.
Kontraste
Erzählt wird die Geschichte mit feinem Gespür für die richtigen Momente. Egal, ob es die nachdenklichen Pausen sind, die fast stillstehende Zeit, in der Germano über Sinn und Unsinn sinniert, oder die knisternd-zwischenmenschlichen Augenblicke. Der italienische Künstler Alfred nimmt sich Zeit, seinen Unglücksraben Germano durch unmögliche Situationen zu manövrieren und ihn selbst in unangenehmen Situationen das quälende Hier und Jetzt aussitzen zu lassen. Szenarien, in denen sich wohl jeder gerne aus dem Staub machen oder lieber gleich unter den nächsten Stein verkriechen wollen würde. Aber auch unbequeme Gespräche, bei denen man als Leser nur zu gut nachvollziehen kann, dass selbst dem sanften Gemüt eines Germano irgendwann mal der Kragen platzt, sind perfekt ausbalanciert. Nah an der Realität und verständnisvoll auf den Punkt gebracht.
Das Auf und Ab von Tag und Nacht fängt Alfred gekonnt ein. Dabei sind seine Zeichnungen nicht sonderlich aufwendig oder ausgesprochen hübsch, jedoch stets gefällig und stilvoll. Der Kontrast von Tag und Nacht fällt dabei optisch so schwer ins Gewicht, wie die unterschiedlichen Temperamente von Elena und Germano. Wo sie forsch und redegewandt auftritt, steht ihr ein sichtlich schüchterner und introvertierter Mann gegenüber, der nur selten aus seiner Komfortzone zu treten scheint. Im Gegensatz zu Feuer und Wasser, ergänzen sich ihre Wesensarten jedoch, was den sich in den Charakteren wiederspiegelnden Tag/Nacht-Vergleich zu einem perfekten Sonnenuntergang verschmelzen lässt.
Fazit:
Eine beschwinglich-leichte Graphic Novel, die unglaublich positiv daherkommt. Voyeuristisch stolpern wir mit dem sympathischen Pechvogel Germano durch Fettnäpfchen und unbequeme Situationen und sind ebenso hautnah dabei, wie er unter dem klaren Sternenhimmel einer betörenden Nacht unverhofft aufblüht. Mit Wortwitz und viel Gefühl, ist „Senso“ die optimale Sommer-Lektüre.
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