Rebis - Ein Kind der Natur

Rebis - Ein Kind der Natur
Rebis - Ein Kind der Natur
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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonJul 2024

Story

Mal feinfühlig, mal brutal rau. Eigentlich eine ausgewogene Mischung. Gerade deshalb ist es fast schon ärgerlich, dass die Story sich hier und da selbst ein Bein stellt.

Zeichnung

Zarte Strichführung und fantastisch koloriert. Durch den leichten und ebenso verspielten Manga-Look sehr zugänglich fürs jüngere Publikum.

Die Reise zum Ich

Der Außenseiter

Martinos Geburt steht unter keinem guten Stern. Einzig seine körperliche Unversehrtheit schützt ihn davor, dass der strenge Vater ihn gleich weggibt. Während einer Hexenverbrennung, die die Dorfgemeinschaft jubelnd zusammenführt, erblickt das jüngste Familienmitglied das Licht der Welt. Mit den unschuldigsten Augen, die man sich vorstellen kann. Dennoch wird gleich über ihn gerichtet. Seine helle Haut macht ihn, noch bevor er den ersten Laut von sich geben kann, zum Außenseiter. Von seinen älteren Schwestern und der Mutter geliebt, wird Martino von Vater und Bruder stets argwöhnisch betrachtet. Ebenso von den anderen Dorfkindern, für die Martino schon in jungen Jahren als Prügelknabe herhalten muss. Er ist der Andere, der Albino, das Kreidegesicht… ohne Freunde außerhalb des Familienkreises. Die meiste Zeit verbringt er im Wald, sammelt Larven, um neugierig deren „Verwandlung“ zu beobachten. Eine gute Seele, die in diesen rar gesäten Glücksmomenten sichtbar aufblüht. Nur, um sich dann des Nachts in den Schlaf zu weinen. Schwächlich und unnütz in den Augen seines ablehnenden Vaters.

Die Ablehnung im Dorf reicht so weit, dass man Martino die Schuld an allen möglichen Vorkommnissen gibt. Frost auf dem Acker? Reißende Füchse im Hühnerstall? Kühe, die keine Milch mehr geben? Typisches Hexenwerk! Da aber gerade keine Hexe zum Anzünden parat steht, muss der Außenseiter-Bengel schuld sein. Tja…, andere Zeiten, was? Könnte man meinen, doch traurigerweise lässt sich solch ein Verhalten abgewandelt auch in die Gegenwart transportieren. Für Martinos Vater ist das Maß damit voll. Er möchte sich die Vorwürfe seiner Mitmenschen nicht länger anhören. Kurzentschlossen kontaktiert er seinen Onkel. Der soll Martino aufnehmen, damit dieser sich einer Handelskarawane anschließen kann. Hauptsache das Balg ist weg.

Die Außenseiterin

Für Martino bricht eine Welt zusammen, hat er doch weder sein Schicksal selbst gewählt, noch irgendjemandem Leid angetan. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion nimmt der Junge Reißaus. Er flüchtet sich in den vertrauten Wald, wo er kürzlich erst die mysteriöse Einsiedlerin Viviana kennenlernte. Ein wenig gruselig kam sie Martino schon vor, wie sie da mit ihrem Esel durch die Büsche schlich und Kräuter sammelte. Dass Viviana sich aber bereit erklärte, auf Martinos Larve aufzupassen, damit die Raufbolde sie nicht in die Finger bekamen, war Beweis genug für Martino, dass die wortkarge Fremde kein schlechter Mensch sein konnte. Nicht überraschend also, dass er nun Zuflucht bei ihr sucht. Überraschend aber, dass Viviana das außergewöhnliche Kind bei sich aufnimmt. Ende gut, alles gut? Nein…, denn Martinos Weg zu sich selbst fängt gerade erst an.

Zu einfach gedacht?

Ein Buch über Selbstfindung, Selbstliebe, Selbstbestimmung, die Suche nach der eigenen Identität und allem, was da noch so dranhängt. Per se schon mal eine gute Sache, auch wenn es viele Leute gibt, denen diverse Themen reichlich überpräsent erscheinen mögen. Jedoch gibt es zahlreiche Menschen (jeglichen Alters), die sich ausgegrenzt, nicht akzeptiert oder respektiert fühlen. Vielleicht sogar nicht von sich selbst, da sie nicht wissen, wo sie in unserer zunehmend komplexen und immer schnelllebiger werdenden Welt eigentlich stehen. Innere und äußere Konflikte können das Leben bestimmen. Zerrissenheit, Verzweiflung, wie ein sinnloses Herumirren ohne Zielpunkt zum Durchatmen, zum Rasten, Ruhen, zum friedvollen Leben. Ein großes und lautes JA zu mehr Offenheit und Toleranz. Sollte eine Selbstverständlichkeit sein, ist es aber leider bei Weitem nicht. Allein deshalb hat ein Comic wie „Rebis“ seine Daseinsberechtigung.

Auch muss man Autorin Irene Marchesini ein Kompliment machen, dass sie ihre Geschichte weitestgehend gut durchdacht und mit zahlreichen Metaphern gespickt hat. Zum Beispiel Martinos Larve, die er kurzzeitig in die Obhut von Viviana gibt, bevor er sich liebevoll wieder selbst um sie kümmert, bis aus ihr schließlich ein stattlich-starker Hirschkäfer schlüpft. Nach altem Volksglauben heißt es, dass Hirschkäfer Blitze anziehen würden und so für Hausbrände verantwortlich wären. Projiziert man dies auf Martinos Elternhaus, sieht man die Hütte auf Grund der aufgeheizten Stimmung metaphorisch in Flammen stehen. Und gleichzeitig Martinos kämpferische Entwicklung, seine Transformation zu „Rebis“. Ein Name, den er für sein zukünftiges Ich selbst gewählt hat. Übersetzt bedeutet dieser so viel wie „zwei Dinge“. Genutzt in der Alchemie, aber auch als Vereinigung des Männlichen und Weiblichen zum Hermaphroditen. Beziehungsweise zum androgynen Wesen, welches die Eigenschaften beider Geschlechter vereint. Da stecken schon viele Gedanken hinter, führen mich aber nun auch zu ein paar Aspekten, die ich dem Comic ankreiden muss:

Der Zeitraum vom Kind zum Teenager wird großzügig übersprungen. Lediglich ein kleiner Zeitraffer zeigt, wie Martino heran- und aus seiner burschikosen Kleidung herauswächst. Eher aus der Not geboren, schlüpft er dann in ein Kleid aus Vivianas Fundus. Gepaart mit dem über die Zeit gewachsenen Haar, sind wir dann in kürzester Zeit bei einem Martino angelangt, der sich selbst nicht mehr als Jungen identifiziert und uns auch nicht mehr als einer dargestellt wird. Und obwohl wir es mit einem phantastisch angehauchten Märchen zu tun haben, ging mir dieser Wandel zu schnell. Immerhin lebt die Geschichte durch ihre ansonsten feinfühligen Botschaften, wie Freundschaft, Akzeptanz und Selbstliebe. Gerade diese ausgelassenen Jahre hätten (zumindest etwas detaillierter) dargestellt werden können, um die Zerrissenheit Martinos etwas mehr in den Vordergrund zu rücken. Zuvor wurde sein Anderssein (bleiche Haut, weiße Haare) ja bereits breit thematisiert, wobei diese einstige Bürde bei der Identitätsfindung immer mehr in den Hintergrund rückt. Des Weiteren wird die ansonsten geradlinige Story im letzten Drittel etwas hektisch erzählt und für meinen Geschmack zu schnell zu Ende gebracht.

Natürlich möchte ich keinesfalls die Zeichnungen von Carlotta Dicataldo unter den Tisch fallen lassen, denn diese sind wahrlich magisch. Zarte Linien und manga’esque Charaktere zwischen Anime und Zeichentrick lassen schnell Zugang in die Welt von „Rebis“ finden. Die natürliche Kolorierung ist äußerst gelungen und wortwörtlich mit vielen Highlights gespickt. Die aufgehellten Flächen, wenn Sonnenlicht beispielsweise durch die Bäume scheint, sorgen für eine schöne Tiefe. Die Bilder haben einen tollen Fluss und die Gesichtsausdrücke der liebevoll gezeichneten Figuren lassen Leserinnen und Leser jede Gefühlsregung hautnah miterleben. Bei der gegebenen Thematik alles andere als unwichtig. Als Bonus wird uns dann im Anschluss noch gezeigt, wie die Macherinnen bei ihrer Arbeit zu Werke gingen. Dazu noch Charakter-Designs und eine kleine Galerie verschiedener Künstlerinnen. Eine nette Abrundung.

Fazit:

Erschienen bei CROCU, der Kinder- und Jugendbuch-Sparte von CROSS CULT, würde ich dazu anraten, das Buch als Elternteil gemeinsam mit jüngeren Leserinnen und Lesern zu entdecken. Zumindest sollte man für Rückfragen zur Verfügung stehen, da einige Dinge höchstens angeschnitten werden und nicht klar ausformuliert sind. Die Themen Mobbing und Ausgrenzung sind zudem sehr präsent… ach ja, und da ist natürlich auch noch die Nummer mit der Hexenverbrennung, die bis zu einem gewissen Grad graphisch dargestellt wird. Nicht nur deshalb würde ich mich mit einer Leseempfehlung ab 10 Jahren etwas schwertun und den Titel für etwas höhere Altersklassen einstufen.

Rebis - Ein Kind der Natur

Carlotta Dicataldo, Irene Marchesini, CroCu

Rebis - Ein Kind der Natur

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