Leuten in die Köpfe gucken
Von Tür zu Tür
Der Psychoanalytiker Simon Radius verfügt über eine ungewöhnliche Gabe. Er kann seinen Patienten wortwörtlich in die Köpfe schauen. Dazu dringt er tief in deren Unterbewusstsein ein und begibt sich in den wirren Strudel aus gespeicherten Erinnerungen, welche hinter sogenannten mnemonischen Türen schlummern. Der selbsternannte Psycho-Investigator stand der Polizei schon mehrfach mit seinen außergewöhnlichen Fähigkeiten zur Seite, sodass vertrackte Fälle in Sackgassen auf diese Weise aufgeklärt werden konnten. Kommissarin Sandra Brody setzt vollstes Vertrauen in den Ermittler, steht damit aber ziemlich allein auf weiter Flur. Besonders ihr Kollege Padovani - ein Kotzbrocken von einem Inspektor - sieht die Methoden von Radius als reinsten Humbug an.
Beim Fall um einen vermeintlichen Serienmörder ist aber Radius‘ Sachverstand wieder einmal gefragt… sehr zu Padovanis Unmut. Auch der Anwalt des Täters ist auf Grund der unkonventionellen Methodik extrem ungehalten. Da seinem Mandanten jedoch eine Unzurechnungsfähigkeit attestiert werden soll, obwohl dieser alle drei verübten Morde eingestanden hat, kommt man um das Urteil des Psychoanalytikers nicht herum. In den Geist von Pierre Chardon eingedrungen, wird dieser auch gleich mit schrecklichen Bildern des Tatvorgangs konfrontiert. Radius wird Zeuge, wie der Gärtner Chardon sich in rasender Wut auf seine ehemalige Arbeitgeberin stürzt. Doch er blickt mit erfahrenem Auge hinter die Fassade, wo sich ihm ein gänzlich anderes Bild liefert. Außerdem findet er Beweisstücke, die die Ermittler bei der Sicherung des Tatorts übersehen zu haben scheinen. Radius ist sich sicher, Chardon ist unschuldig. Um seine Theorie zu untermauern, muss er allerdings noch die anderen beiden Tatorte nach möglichen Verbindungen absuchen.
Das Herumstreifen in den Köpfen Fremder kann ganz schön anstrengend sein. Um seinem aufgekratzten Hirn etwas Entspannung zu gönnen, hat Simon Radius seine ganz eigene Methode. Er vertieft sich in Erinnerungen an seine Frau. Die schönen und unbeschwerten Momente mit Dora… bevor sie aus seinem Leben trat. Sie wollte lediglich ein paar Einkäufe erledigen, kehrte jedoch nie zurück. Ein Rätsel, welches selbst der geniale Psycho-Investigator bislang nicht knacken konnte. Als ihm dann eher beiläufig ein winziges Detail ins Auge fällt, scheint er seinen wohl privatesten Fall noch einmal von Grund auf aufrollen zu müssen…
Vom Macher von…
Krimi-Fans dürfen Weihnachten schon mal vorfeiern, denn „Psycho Investigator“ ist ein clever konstruiertes Stück in drei Akten. Dass so manche Offenbarung bereits früh auf der Hand liegt, schmälert das Lesevergnügen kaum, denn man sollte das übergreifende Gesamtkonstrukt betrachten. Was mit einem gewöhnlichen Fall in Gang getreten wird - zumindest aus Sicht des unkonventionellen Analytikers -, entwickelt eine lebensverändernde Dynamik und schürft die Wahrheit immer mehr zu Tage. Die abgefahrenen Trips in die Psyche (Radius „befragt“ sogar einen Kanarienvogel!) sorgen für meisterhaft inszenierte Momente und heben den Spagat zwischen Whodunit-Krimi und Drama auf ein ganz eigenes und entsprechend unverbrauchtes Level.
Der Hauptverdächtige in diesem Design-Fall ist Benoit Dahan, der mit Erwan Courbier auch für das Szenario verantwortlich ist. Dahan war 2021 schon federführend im grandiosen Ausnahme-Comic „Im Kopf von Sherlock Holmes“ (ebenfalls SPLITTER). Bereits dort spielte er grandios mit künstlerischen Elementen, um Leserinnen und Lesern ein außergewöhnliches Leseerlebnis zu bieten. Auf die Gimmicks (Seiten wölben oder gegen das Licht halten, um Hinweise zu entschlüsseln) wurde in „Psycho Investigator“ zwar verzichtet, doch das ist sehr gut zu verschmerzen. Auch wenn mir der „Holmes“-Sepia-Look noch einen Tick besser gefiel, ist das Detail-Meckern der pingeligen Sorte. Dahan durchbricht Genre-übliche Grenzen und erzählt Geschichten in Bildern, die nur ein Comic wiedergeben kann. Wortwörtlich werden Schleier gelüftet, Mauern eingerissen und es wird in Gedanken abgetaucht. Das Wandern durch einen Gedächtnispalast, welches sich der Mnemotechnik der altgriechischen Loci-Methode (Hilfstechnik für die Abfolge miteinander verknüpfter Dinge) bedient, wurde schon in Dahans „Holmes“-Vorgänger blendend umgesetzt. Äußerst passend, denn die BBC-Serie „Sherlock“ stellte diese Technik bereits mehrfach filmisch dar. Ebenfalls die Stephen-King-Adaption „Dreamcatcher“. Keine Frage, dass Benoit Dahan diesen nur zu gut passenden visuellen Grenzensprenger ausgiebig in „Psycho Investigator“ nutzt.
Das fehlende Stück
So ganz ohne Gimmick geht es dann aber doch nicht: Die Front des Hardcovers ist ein sogenanntes Die-Cut-Cover. Dabei wird ein Teil des Motivs - in diesem Fall ein Puzzlestück - herausgestanzt. Die Lücke offenbart einen ersten Einblick ins Innenleben. Von der Größe unterscheidet sich „Psycho Investigator“ nicht von den herkömmlichen SPLITTER-Alben. Allerdings ist der Umfang vergleichsweise gewaltig. Die drei aufeinander aufbauenden Kapitel umfassen stolze 145 Seiten. Für ein Werk, welches vor allem durch die zeichnerische Finesse hervorsticht, die optimale Wahl der Größe.
Fazit:
Kluge Krimi-Kost in mitreißenden Bilderfluten. Der „Psycho Investigator“ überzeugt auf ganzer Linie und ermittelt auf seine ganz eigene frische Art… und da kann ein nicht näher benannter Inspektor sich kochend vor Wut auf den Kopf stellen. Bis zum abschließenden zweiten Band kann er sich ja noch abregen. Aber bitte schnell, denn dieser steht bereits für November in den Startlöchern!
Erwan Courbier, Benoit Dahan, Benoit Dahan, Splitter
Deine Meinung zu »Psycho Investigator - 1. Die Genese«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!