Die Rückkehr der Toten
Wenn der Tod dir ins Gesicht lächelt…
…dann fang lieber an zu rennen. Schnell. Ganz, ganz schnell.
Viele von uns würden sicherlich eine Menge dafür geben, noch einmal lieben Verwandten, die zu früh von uns gingen, in die Augen zu blicken. Gewissheit und Trost finden, dass es ihnen gutgeht… wohin sie die Reise auch immer geführt haben mag. Rain und ihrer jüngeren Schwester Emma geht es ähnlich. Sie verloren ihre Eltern bei einem Flugzeugabsturz. Drei Jahre ist es her, dass die Maschine auf dem staubtrockenen Boden von Europas einziger Wüste zerschellte. Nun sind die beiden dorthin unterwegs. Ein Road Trip durch Spanien mit ungewissem Ausgang. Sollten ihre Berechnungen allerdings stimmen – und seit achtzehn Monaten konnte man die Uhr nach dem schockierenden Phänomen stellen, welches unsere Welt für immer veränderte – treffen Rain und Emma heute ihre Eltern wieder…
Als über die ersten Geistererscheinungen berichtet wurde, hielt man es noch für einen schlechten Scherz. Spezialeffekte, billige optische Tricks oder Ähnliches. Doch die Berichte häuften sich und schon bald gab es kaum noch jemanden, der nicht auf einen Geist gestoßen wäre. Sie waren nicht greifbar, transparent. Und sie leuchteten. Sie tauchten genau an dem Ort wieder auf, an dem sie starben. Sie sprachen nicht und folgten mit ihren Blicken stets dem Lauf der Sonne. Ihr Erscheinen folgte einem bestimmten Muster. Tag Null markierte den Startpunkt der Wiederkehr. Die Zahl der strahlenden Erscheinungen breitete sich im Sekundentakt aus und schnell waren es bis zu dreihunderttausend Geister am Tag.
23 Uhr 20. Pünktlich zum errechneten Zeitpunkt erhellt sich die Wüste. Die toten Passagiere des Katastrophenflugs tauchen die Nacht in grelles Licht. Unter ihnen auch die Eltern von Rain und Emma. Hatten beide Mädchen in den letzten Jahren einiges durchgemacht, wollen sie nun versöhnlich Abschied nehmen. Einen jungen Norweger namens Tyler hat es ebenfalls an die Absturzstelle gezogen. Er wartet dort auf seine verstorbene Freundin Flavie. Allerdings ist sie nicht erschienen. Vierundneunzig Menschen kamen bei dem Absturz ums Leben… doch Emma zählt nur zweiundachtzig. Wie kann das sein? Nicht das einzige Mysterium in dieser Nacht. Denn die Geister entsagen ihren Mustern und beginnen zu lächeln. Sie alle lächeln. Kein freundliches Lächeln, denn jeden in ihrem Umkreis erwartet der Tod…
Neues vom Alleskönner
Die von Jurek Malottke adaptierte Geschichte stammt aus der Feder des Schriftstellers Kai Meyer. Meyer gehört wohl zu den bekanntesten deutschsprachigen Autoren der phantastischen Literatur. Seine Geschichten wurden bereits mehrfach in Comicform adaptiert und immer wieder überraschen die Erzählungen durch ihre Vielfalt. Ging es in „Frostfeuer“ dank den wunderbaren Zeichnungen der ebenso wunderbaren Künstlerin Marie Sann noch reichlich märchenhaft zu, entführte Zeichner Ralf Schlüter mit dem „Wolkenvolk“ opulent ins Alte China. Mit Newcomer Jurek Malottke wurde es in „Das Fleisch der Vielen“ (alle ebenfalls bei SPLITTER erschienen) dann richtig düster. Haariger Spukhaus-Horror mit unverkennbarem Look. So unverkennbar kommt nun auch „Phantasmen“ daher. Jener Umsetzung des gleichnamigen Romans, der bereits 2014 bei CARLSEN veröffentlicht wurde. Im Nachwort erzählt Kai Meyer noch, wie ihm die Idee zum Buch kam und wie diese letztendlich phantastische Formen annahm.
Kontraste
Jurek Malottkes Stil zu beschreiben fällt nicht leicht. Schnell, grob und wild. Ausdrucksstark und dennoch abstrakt und in seiner Skizzenhaftigkeit in sich verschachtelt. Besonders in den düsteren Passagen wird es schwer, die einzelnen Darstellungen zu entwirren. Einerseits mag ich diese Art des Zeichnens sehr, da die Bilder bisweilen Gemälde-Charakter haben. Allerdings stehen sie sich durch das hohe Erzähltempo öfter selbst im Weg. Bei gut 240 Seiten wird es selbst für ein geübtes Comic-Auge anstrengend, wenn man dem Fluss der Story folgen möchte, aber immer wieder durch den Entschlüsselungsprozess der Panels ausgebremst wird. Im Kontext der bewegenden Story und ihren problembehafteten Charakteren gehen somit viele Emotionen verloren, die die Gesichter der Figuren nicht wiederspiegeln können.
Fazit:
Die Bilder erzielen mit wenigen Strichen und Klecksen viel Wirkung. Mit ein wenig Fantasie setzen sich so ganze Szenarien zusammen, was dafür aber zu Lasten des Erzähltempos geht. Gefühlt las ich mit angezogener Handbremse. Auch musste ich – für meine Verhältnisse – ungewohnt viele Pausen einlegen, obwohl der Drang nach der Auflösung der Story mich nie sehr lange fernhielt. Wer also möglichst viel Zeit mit einer Graphic Novel verbringen möchte, ist bei „Phantasmen“ genau richtig. Dass Emotionen gut transportiert werden, ist jedoch meist nur dem Text zuzuschreiben.
Kai Meyer, Jurek Malottke, Splitter
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