Penelopes Odyssee
Wenn die Stille in den Ohren dröhnt
Penelope führt zwei Leben. In Belgien leben ihr Ehemann und die gemeinsame Tochter in einem großen Haus mit einem schönen Garten, alles ist friedlich und das Dramatischste, was Penelope dort passieren kann, sind ihre Streitigkeiten mit ihrer Mutter und ihrer Schwester. Das alles wirkt so unbedeutend, wenn man Penelopes zweites Leben kennt. Ihr Beruf ist Chirurgin, ihre Berufung ist es, in Aleppo Schwerverletzten das Leben zu retten. In der harten Kriegsrealität ist das Leben retten aber nicht immer möglich. Aus ihrem letzten Einsatz in Aleppo reist deswegen der Geist eines Mädchens mit nach Belgien zurück und klebt an Penelope wie ein blutroter Fleck in ihrem eigentlich sehr sauberen Leben. Penelope fällt es immer schwerer, Familienleben und ihre Einsätze zu trennen.
Schon die ersten knapp 20 Seiten verdeutlichen, wie unfassbar unterschiedlich Penelopes zwei Leben sind. Diese Seiten sind in der Mitte getrennt: Die obere Hälfte zeigt Penelopes Tochter in Belgien, wie sie zum ersten Mal ihre Periode bekommt. Darunter bekommt der Leser einen Einblick in Penelopes Arbeit als Chirurgin in Aleppo. Während Penelopes Tochter zusammen mit ihrer Großmutter nachts am Küchentisch sitzt oder von ihr lernt, wie ein Tampon funktioniert, versucht Penelope das Lebens eines jungen Mädchens zu retten und scheitert. Ab da sehen wir als Leser zwar nichts mehr von Penelopes Einsätzen in Aleppo – der Rest der Geschichte spielt in Belgien – aber diese Seite von Penelope ist nie wirklich weg. Entweder wird sie in Gesprächen mit verschiedenen Familienmitgliedern oder mit ihrer Therapeutin thematisiert, oder – was noch eindrücklicher ist – in ihrem Gesicht widergespiegelt.
Farbtupfer mit Strichen – und fertig ist das Bild
Eigentlich dürften die Bilder von Judith Vanistendael nicht so ausdrucksstark sein. Tuschefarbtupfer, die teilweise ineinander verlaufen, plus ein paar Striche für Konturen oder Gesichtsmerkmale – das sind die Hauptzutaten für die Figuren, die Vanistendael in „Penelopes zwei Leben“ schafft. Sie schafft es aber, ihren Figuren viel Persönlichkeit und Ausdruck zu verleihen. Vor allem in ihren Therapiesitzungen kann man die Gedanken und Gefühle von Penelope sehr gut erkennen. Mal zeichnet Vanistendael Penelopes Augen als kleine Knöpfe, mal als riesige blaue Augen; mal umrahmt sie die Augen mit Augenbrauen, mal nicht. Das alles hilft, mit der Figur mitzufühlen und sie zu verstehen.
Mir gefällt es auch sehr gut, wie Vanistendael den Comic aufbaut. Die Seiten haben keine festen Panels oder gar eine richtige Struktur. Manchmal füllen die Bilder eine ganze Seite, mal sind viele kleine Bilder neben- und untereinander zu sehen. Auch die Hintergründe variieren sehr. Es gibt Seiten, da stehen die Figuren im leeren Raum oder stehen vor einem einfarbigen Hintergrund, wie vor einer Leinwand. Meistens aber ist der Hintergrund sehr detailliert ausgearbeitet. Dadurch hatte ich das Gefühl, dass Penelope und ihre zwei Welten sehr real sind, als ob es ihr Haus tatsächlich gäbe und dort echte Menschen leben würden.
Immer dieses „Aber“
Die fließenden Übergänge der Panels ineinander sehen sehr schön aus und haben mich als Leserin von der einen Seite zur nächsten gezogen. Manchmal musste ich aber anhalten und eine Seite nochmals komplett von vorne lesen, da ich die Sprechblasen in der falschen Reihenfolge gelesen hatte. Die sehr freie Panelgestaltung kann also auch manchmal Stolpersteine in den ansonsten flüssigen Lesefluss legen, was sehr schade ist.
Judith Vanistendael: Comic-Reporterin
Im Anschluss an die Geschichte von Penelope ist eine Reportage der Autorin und Zeichnerin Judith Vanistendael über das Geflüchtetenlager Moria auf Lesbos. Der Zeichenstil ist dem von Penelope ähnlich, nur dass anstatt einer fließenden Tusche eine etwas härtere Wachsmalkreide die Farben liefert. Diese Reportage zeigt, wie gut sich Comics dafür eignen, Erlebnisse zu schildern. Zwar schafft eine gut geschriebene Reportage Bilder im Kopf, aber sichtbare Bilder sagen nun mal mehr als tausend Worte.
Fazit:
„Penelopes zwei Leben“ erzählt eine starke Geschichte in unfassbar schönen Bildern. Judith Vanistendael schafft es, fließende Tusche und harte Striche so miteinander zu kombinieren, dass ausdrucksstarke Figuren und real wirkende Umgebungen daraus entstehen. Die sehr freie Gestaltung der Seiten und die dadurch fast ineinanderfließenden Panels ziehen den Leser in die Geschichte hinein, haben mich aber das eine oder andere Mal auch aus dem Lesefluss gerissen. Ein Pluspunkt des Comics ist aber definitiv die Reportage am Ende.
Judith Vanistendael, Judith Vanistendael, Reprodukt
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