Text:   Zeichner: Cliff Chiang

Paper Girls - Die komplette Geschichte

Paper Girls - Die komplette Geschichte
Paper Girls - Die komplette Geschichte
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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonSep 2022

Story

Eine unberechenbare Wundertüte von Erfolgsautor Vaughan. „Paper Girls“ ist frech, rotzig, witzig und wahrlich Grenzen sprengend.

Zeichnung

Es hapert hier und da, kann aber über weite Strecken mit Charme und Flair überzeugen. Farblich etwas drüber und in Aktion etwas zu hölzern.

Zeitlos… und vermutlich arbeitslos

Print is NOT dead!

Der erste Tag im neuen Job. Pünktlich aufstehen, alles vorbereiten, bloß nichts vergessen. Erin Tieng ist voller Elan und Tatendrang. Und außerdem ist sie… zwölf. Erin steht vor ihrem ersten Tag als Zeitungsbotin für den Cleveland Preserver. Es ist der frühe Morgen nach Halloween im Jahr 1988. Der sogenannte Höllen-Morgen. Höllen-Morgen deshalb, weil zu dieser frühen Stunde noch die Überbleibsel der vorangegangenen Party-Nacht durch die Straßen ziehen, die selten Gutes im Schilde führen. Außerdem sind die Auswirkungen noch überdeutlich auf den Straßen zu sehen: Scheißhauspapier in den Bäumen, Müll und Glas auf den Straßen. Gift für die Reifen, denn Erin trägt die frischen Druckerzeugnisse selbstredend mit dem Rad aus. Gerade erst hat der Frischling seine Tour durch Stony Stream begonnen, rasselt Erin auch schon in eine Gruppe kostümierter Teenager. Bis unter die Hutkrempe mit Testosteron und Übermut gefüllt, gehen sie das Mädchen übelst an. Doch Rettung naht… in Form ihrer neuen Kolleginnen Tiffany, KJ und der mit allen Wassern gewaschenen Mac. Burschikos, rauchend und fluchend wie fünf Bauarbeiter vor der Mittagsschicht nimmt Mac nicht nur die hormongesteuerten Milchgesichter in die Zange, sondern gleich noch die Neue unter ihre Fittiche. Naja, mehr oder weniger. Aber in dem harten Zeitungs-Business muss man halt zusammenhalten. Schnell wird beschlossen, dass man die Tour durch Stony Streams frühmorgendliche Straßen gemeinsam beendet. In Zweier-Teams geht die Schicht weiter. Doch auf den Ausgang des Arbeitstages ist keine von ihnen vorbereitet…

Murphys Gesetz

KJ und Tiff werden von drei vermummten Unbekannten überfallen, was vor allem Mac nicht ungestraft lassen will. Gemeinsam nehmen die vier Mädchen die Fährte der Flüchtigen auf, was sie zu einem leerstehenden Gebäude führt. In dessen Keller stoßen sie auf eine seltsame Apparatur, deren Sinn und Zweck sie sich nicht erklären können. Zeitgleich beginnt am Himmel ein farbenprächtiges Schauspiel kosmischen Ausmaßes, welches über der ganzen Stadt zu sehen ist. Faszinierend und mindestens ebenso beunruhigend, denn urplötzlich flattern Flugsaurier durch die Luft. Dutzende! Rauf aufs Rad und keine Zeit verlieren. Wer weiß, was der erleuchtete Himmel sonst noch so ausspuckt. Im Haus von Macs Dad treffen die schockierten Mädels auf ihre Stiefmutter. Sturzbesoffen und bewaffnet, will diese ihrem Leben im Zuge des drohenden Weltuntergangs ein Ende setzen. Das gelingt auch fast, nur dass die verirrte Kugel mitten in Erin landet. Da Tiff bereits ein wenig „Fahrpraxis“ hat, klemmt sie sich ans Steuer des Wagens von Macs Stiefmom. Weit kommen sie aber nicht, da ein Fremder in futuristisch-strahlender Rüstung ihnen den Weg versperrt, der mal so gar nicht aus dem Cleveland des Jahres 1988 zu stammen scheint. Gerade als dieser die Situation erklären will und Hilfe für Erin in Aussicht stellt, bekommt er eine ordentliche Stange Blei in den Schädel geblasen. Abgefeuert von einem der vermummten Typen, die sich als zeitreisende Teenager entpuppen. Sie befinden sich in einem Krieg mit einer verfeindeten Fraktion, der der Kerl in der Rüstung angehörte. Auch die Zeitreisenden geben an, dass sie Erin retten könnten. Dafür müssen sie aber zu ihrer in sicherer Abgeschiedenheit abgestellten Kapsel, die dem merkwürdigen Ding aus dem Keller erstaunlich ähnelt. Heck und Naldo, wie die beiden Typen heißen, verfrachten die immer schwächer werdende Erin in ihrer Kapsel, die sich im Bruchteil von Sekunden im Nichts auflöst…

Damit beginnt ein aberwitziges Abenteuer durch Zeit und Raum, in dem die Zeitungsmädchen nicht nur zwischen die Fronten zweier Zeitreise-Fraktionen geraten, sich mit Sauriern, Monstern und Riesen-Robotern herumschlagen und plan- und ziellos durch die Zeiten irren, sondern sich auch noch auf Begegnungen mit ihren Zukunfts-Ichs einstellen müssen. Mit SO einem ersten Arbeitstag hat bestimmt nicht nur Erin nicht gerechnet…

Unterkühlt

Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit, ja sogar bis in die Steinzeit verschlägt es die Mädels! Ein Grenzen sprengender Trip mit ungeheurer Tragweite. Erfolgsautor Brian K. Vaughan („Y: The Last Man“, „Saga“) dreht die 80er mit frechen Mädels und haufenweise Anspielungen auf dieses Jahrzehnt gehörig auf links und wieder zurück. Keine Idee scheint zu abstrus, kein Abstecher zu abenteuerlich.

Abenteuerlich ist auch die Kolorierung von Matt Wilson („Wonder Woman“, „Swamp Thing“, „The Wicked + The Divine“). Der haut die 80’s-Vibes mit dem Holzhammer auf die Seiten, was sich in bunten, unterkühlten Farbteppichen entlädt. Das passt zwar in seiner poppigen Art zum bunten Jahrzehnt, wird auf 800 Seiten aber zum anstrengenden Unterfangen. Bei den Einzelbänden, die CROSS CULT zuvor veröffentlichte (und erst recht bei den US-Heften) fiel dies weniger ins Gewicht als in gebündelter Form. Deshalb wäre es ratsam, sich den Lesespaß anhand drohender Übersättigung einzuteilen.

Die eigentlichen Zeichnungen stammen von Cliff Chiang („Human Target“, „Zatanna“, Wonder Woman“). Die Charakteristik seiner Figuren kommt einem 80’s-Style mit seinem konturstarken Strich schon authentisch nahe, büßt aber in Sachen Dynamik ein. Speziell Bewegungsabläufe wirken ungelenk und hölzern. Möglich, dass dies ein bewusstes Stilmittel sein soll, aber die größte Kunst ist das nicht.

Kurzes Gastspiel?

Im Sommer 2022 gingen die Zeitungsmädels dann voll auf Sendung. Und zwar auf der Streaming-Plattform AMAZON PRIME VIDEO. In acht Episoden traten die Jung-Schauspielerinnen Riley Lai Nelet (als Erin Tieng), Sofia Rosinsky (als MacKenzie „Mac“ Coyle), Camryn Jones (als Tiffany Quilkin) und Fina Strazza (als Karina J. „KJ“ Brandman) eifrig in die Pedale, um durch die Zeit zu reisen und zwischen die Fronten verfeindeter Organisationen zu geraten. Am Kern der Geschichte - bzw. der Ausgangssituation - wurde weniger gerüttelt, dafür aber gewaltig am Ablauf. Im Comic wichtige Parts wurden großzügig ausgelassen. Stattdessen hat man gänzlich neue Charaktere hinzugedichtet, womit die komplette Geschichte ziemlich auf den Kopf gestellt wird. Auslöser für bestimmte Ereignisse wurden entweder vertauscht oder gar nicht erst erwähnt. So rücken in der Vorlage nur kurz abgehandelte Passagen überraschend stark in den Vordergrund, während effektlastige Kapitel stillschweigend unter den Tisch fallen. Das mag am Budget liegen, denn wäre man bei der Produktion vorlagengetreu in die Vollen gegangen, hätte schon in die erste Staffel eine ordentliche Stange Geld investiert werden müssen. Allzu schlimm finde ich das persönlich nicht, da somit beide Formate ihre Daseinsberechtigung haben und Kenner der Comics durchaus überrascht werden können. Außerdem bekommt der Drama-Aspekt in der Serien-Umsetzung damit mehr Gewicht, was den Charakteren guttut. Das Darsteller-Ensemble macht einen guten Job und kommt den gedruckten Vorbildern erstaunlich nah. Ein Lob an die Casting-Abteilung. Selbst wenn man im Hause PRIME nicht so risikofreudig war und der frischen Serie das vollste Vertrauen zu schenken schien, konnten die Kritiken überzeugen.

Trotzdem wurde kürzlich bekannt, dass AMAZON den NETFLIX-Move vollführte und die „Paper Girls“ überraschend aus dem Programm kickte. Beim hauseigenen Streamingdienst wird es keine zweite Season mehr geben, was beim gebotenen Cliffhanger einfach nur ärgerlich ist. Und da soll einem nicht die Lust auf neue Serien vergehen… Für das co-produzierende Studio LEGENDARY TELEVISION ist die Nummer aber noch nicht vom Tisch. Aktuell sucht man eifrig nach einer neuen Heimat, damit es für Erin, Mac, KJ und Tiff an anderer Stelle weitergehen kann. Zu viel Zeit sollte man sich allerdings nicht lassen, denn das Problem mit dem raschen Älterwerden von Teenager-Darstellern ist nicht erst seit „Stranger Things“ bekannt. Im Falle der „Paper Girls“ könnte dies noch gravierender ausfallen, da man sich ja weitestgehend auf eine existierende Vorlage stützt und Drehbuchschreiber nicht einfach einen Zeitsprung von mehreren Jahren improvisieren können. Aber wer weiß, wie weit die Autoren sich noch von der Vorlage entfernen zu gedenken…

(K)ein Vergleich

Apropos „Stranger Things“: Eine Kleinstadt, eine Gruppe Teenager, die wilden 80er, eine übernatürliche Bedrohung… da klingelt doch was! Wollte man sich bei PRIME an den Mega-Erfolg der Hawkins-Strolche dranhängen? Sein eigenes „Stranger Things“ mit einer Mädels-Clique aus dem Hut zaubern? Ähhhhm, nein…, denn die Comic-Reihe aus dem IMAGE Verlag, die es auf 30 Ausgaben brachte, startete bereits im Oktober 2015 und hat somit rund neun Monate mehr auf dem Buckel als der NETFLIX-Hit. Auch vom Look unterscheiden sich beide Formate enorm. „Paper Girls“ übernimmt den kühlen Stil, den Kolorist Matt Wilson Cliff Chiangs Zeichnungen verpasst hat. Grelle Beleuchtung und ansonsten entsättigte Farben, das kommt der Atmosphäre der Comics schon recht nah, geht aber nicht so stark auf die Augen, wie im Panel-Format. Die „Paper Girls“ reden auch recht unverblümt, was mal zotig, dann wieder entwaffnet ehrlich daherkommt. Man kann also nicht behaupten, dass „Stranger Things“ und „Paper Girls“ in Konkurrenz zueinander stehen. Ebenso könnte man die Filme der Häuser MARVEL und DC miteinander vergleichen und einen Streit vom Zaun brechen, welcher Output nun der bessere wäre. Aber das tut ja zum Glück keiner…, nicht wahr? *zwinker, zwinker*

Fazit:

Mit der neuen Gesamtausgabe von CROSS CULT (auch als Hardcover erhältlich) lässt sich die komplette „Paper Girls“-Geschichte, die ursprünglich aus sechs gebundenen Einzelbänden bestand, nun erstmals am Stück lesen. Die rund 800 Seiten sprühen vor verrückten Ideen und haben neben wilden Zeitreise-Trips auch leise, nachdenkliche Momente parat. Mit allen wichtigen Comic-Preisen ausgezeichnet, bietet „Paper Girls - Die komplette Geschichte“ die volle Ladung Abenteuer, Sci-Fi, Drama und Nostalgie. Abzüge in der B-Note gibt es für die etwas steifen Zeichnungen und die auf Dauer anstrengende Kolorierung.

Paper Girls - Die komplette Geschichte

Brian K. Vaughan, Cliff Chiang, Cross Cult

Paper Girls - Die komplette Geschichte

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