Kampf ohne Waffen
Böses Karma
2021. Ihr wisst schon… die Zeit der täglichen Inzidenz-Updates, Spontan-Spaziergänge und der Zeitpunkt, an dem ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft mit Ach und Krach beschloss, seinen unterdurchschnittlichen IQ mit der Allgemeinheit zu teilen. Im Gegensatz zur Pandemie leiden wir an diesen Spätfolgen noch immer, wie tagtäglich in sozialen und asozialen Medien unter Beweis gestellt wird. Mitten im Covid-Blues brachte der italienische Zeichner Michele Rech, besser bekannt unter dem Namen Zerocalcare, seine erste animierte Serie bei NETFLIX an den Start. Während Zerocalcare noch der Gedanke wachhält, ob er sich mit „An der perforierten Linie abreißen“ dem bösen Kapitalismus verkauft hat, flattert ihm ein neuer Job rein. Und zwar einer, bei dem er nicht lange zögert. Die Frage, ob dies vielleicht ein übereilter Schritt war, stellt sich erst zu einem späteren Zeitpunkt… denn das Unterfangen ist heikel:
Im Auftrag des kurdischen Kulturzentrums in Rom soll er sich in den Irak aufmachen. Genauer gesagt nach Shingal (auch als Sindschar oder Shengal bezeichnet), eine Stadt in der nordirakischen Provinz Ninawa. Nachdem die dort lebenden Eziden (auch Jesiden) seit 2014 durch den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) Opfer eines andauernden Genozids sind, wie es auch von der NATO eingestuft wird, ist die dortige Autonomie in höchster Gefahr. Trotz militärischer Hilfe – unter anderem von den Vereinigten Staaten – und heftigem Widerstand unterschiedlicher Milizen und den kurdischen Verbündeten, ist die Region weiterhin schwer umkämpft. Dutzende Massengräber wurden gefunden. Vertreibung, Tod und Terror sind an der Tagesordnung. Die irakische Regierung duldet kein autonomes Modell und die türkischen Nachbarn sowie deren Verbündete unterstützen dieses Vorhaben. Nur die Eziden werden nicht gefragt… und kämpfen – fernab vom Auge der Welt – tagtäglich um ihre Existenz. Und hier kommt Zerocalcare ins Spiel…
Als Comic-Reporter hatte er sich bereits vor ein paar Jahren einen Namen gemacht, als er sich 2014 ins türkisch-irakisch-syrische Grenzgebiet aufmachte und sich dort einer linksautonomen Gruppe anschloss. Versuche, die Truppe von damals erneut zusammenzutrommeln, schlagen fehl. Sie haben entweder Familien gegründet oder sich beruflich anders orientiert. Macht nix, den Zerocalcares kurdischer Kontakt hat eine italienische Delegation zusammengestellt, der sich der Zeichner anschließen soll. Darunter überraschenderweise ein paar bekannte Gesichter. Mit Zeichenblock, Stift und einem extrem mulmigen Gefühl geht es in den Nahen Osten, um die dortigen Zustände zu dokumentieren. Der Weg ins Zielgebiet erweist sich jedoch allein schon als wahres Himmelfahrtskommando voller angespannter Situationen. Großer Gott… auf was hat er sich nur DIESMAL wieder eingelassen?
Schwere Kost, leicht verpackt
Dem intensiven Reisetagebuch „Kobane Calling“ (2017; AVANT) folgte 2022 mit „Vergiss meinen Namen“ (AVANT) ein sehr persönliches Werk Zerocalcares, welches mit seiner bewegenden Familiengeschichte und dem grandiosen Popkultur-Humor schlichtweg begeistert zurückließ. Nun wagt sich Zero erneut in die Höhle der Löwen und liefert mit „No Sleep Till Shingal“ (kleine Hommage an den Beastie-Boys-Hit „No Sleep Till Brooklyn“ von 1986?) eine Quasi-Fortsetzung zu seinem Erstling ab.
Zero hat wieder eine Menge seines ganz eigenen (und ziemlich treffsicheren!) Humors reingebracht. Das lockert nicht nur die Stimmung auf, sondern sorgt fast schon spielerisch dafür, dass das politische Geschehen selbst für Nahost-Laien verständlich erklärt wird. Trotz sarkastischer Seitenhiebe und des cartoonigen Zeichenstils wird aber zu keinem Zeitpunkt der Ernst der Lage verwässert. Ein kleines Kunststück, für das man einfach das passende Gespür braucht. Zerocalcare hat es, ohne Zweifel.
Fazit:
Politisch stark, menschlich noch stärker. Michele Rech legt mit beißendem Witz und viel Beobachtungsgabe erneut den Finger in die Wunde, um den Fokus auf eine zutiefst bedrohte Minderheit zu legen. Unter dem Brennglas des Zeichners ist die aufgeheizte Stimmung in der umkämpften Region auf jeder Seite spürbar, die Anspannung unter allen Beteiligten stets präsent.
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