Teils grotesk anmutende, aber dennoch spannende Geschichte im retrofuturistischen Gewand
Es ist schon ein wenig skurril, wenn gleich zu Beginn der Geschichte ein Mann im roten enganliegenden Ganzkörperanzug einen Roboter, der als Kaffeemaschine seinem Geschäft nachgeht, als „Papa“ anspricht und beide gemeinsam in einem Café Platz nehmen, um sich zu unterhalten. Was natürlich Ärger verursacht, da die Bedienung im Café sofort befürchtet, der Vater, also die Kaffeemaschine, könne hier selber tätig werden und Geschäft streitig machen.
„Ich habe meine Frau verloren, meinen Sohn, einen Arm, und ich bin zum Outlaw geworden... Ein Scheißtag!“
Auch wenn im weiteren Verlauf immer mal wieder Humor durchscheint, die Zukunftsvision von Charles Berberian und Fred Beltran bleibt im Kern ernst und düster: An der Oberfläche der Erde lebt eine fortgeschrittene, privilegierte Zivilisation, der es möglich ist, nach dem Tod ihre Seelen auf andere menschliche Körper - oder eben auch Roboter - zu übertragen und so weiterzuleben. Unter der Erde hingegen leben Menschen zurückgezogen in Schutzräumen, fest in dem Glauben, dass Roboter die Erde in eine Apokalypse gestürzt und die Oberfläche unbewohnbar gemacht haben. Eine von ihnen ist Nathanaëlle, eine dunkelhäutige junge Frau mit auffälligen Cyborg-Implantaten. Doch ihr gelingt die Flucht an die Oberfläche. Sie deckt die Wahrheit auf.
Besondere Brisanz bekommt die Geschichte, als wir erfahren, dass Nathanaëlle niemand Geringere ist, als die Tochter des derzeitigen herrschenden Weisen „Tabor“, der seit beinahe 500 Jahren die Geschicke der Erde bestimmt. Unzählige Errungenschaften der Menschheit sind Tabor zu verdanken. Doch niemand ahnt, dass seine letzte große Tat das Zusammenleben auf der Erde für immer verändern wird.
Der Look des Comics mag anfangs noch etwas merkwürdig, zumindest aber ungewöhnlich anmuten. Denn Menschen werden mit überdimensionierten Köpfen auffällig überzeichnet, ausgefeilte Mimik und fein ausgearbeiteten Gesichtszügen betonen das zusätzlich. Dem entgegen steht ein eher kühles aber dennoch stimmiges Sci-Fi-Setting. Ein sehr ausführlicher und ansprechender Skizzenteil rundet den insgesamt gelungenen visuellen Teil ab.
Die Geschichte ist über weite Strecken temporeich erzählt. Es gibt einige Zeitsprünge, welche die derzeitigen Zustände auf der Erde aufzeigen und den Leser zugleich immer weiter in die Geschehnisse hineinziehen. Auch der eingangs geschilderten Szene geht eine handfeste Schießerei mit der Polizei voran, bei der Vivier und Melvin, so die Namen von Vater und Sohn, nicht nur um ihr Leben fürchten müssen. Denn es gibt dann auch tatsächlich Opfer zu beklagen.
Immer mehr offenbart sich dem Leser eine ganz besondere Konstellation, welche das Machtgefüge auf der Erde bestimmt, die Interessen der Obrigen wahrt und diese wenn erforderlich mit Polizeigewalt durchsetzt. Und wir erfahren die Wahrheit hinter der Teilung der Gesellschaft. So gelingt Berberian und Beltran ein dramaturgischer Überbau mit kritischen Untertönen. „Nathanaëlle“ ist die selbstbewußte Stimme der Unterdrückten und sie plant die Zustände auf der Erde aufzudecken und zu ändern. Doch noch ahnt sie nicht, dass ihr Schicksal bereits von langer Hand geplant ist.
Fazit:
„Nathanaëlle“ mag vielleicht nicht alle Comic-Fans auf Anhieb ansprechen, doch mehr als ein Blick lohnt sich hier unbedingt. Charles Berberian und Fred Beltran entwerfen eine teils grotesk anmutende, aber dennoch spannende Geschichte im retrofuturistischen Gewand mit außergewöhnlichen Protagonisten, die mit einem gelungenen, wenn auch nicht gänzlich überraschenden Plot aufwartet.
Charles Berberian, Fred Beltran,
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