Jäger und Gejagte
Wenn die Realität Dir in die Fresse haut…
…fragst Du dann nach einem Nachschlag? Nein… womöglich nicht. Sogar mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit NICHT. Nun, das tut der Cop John Cain auch nicht. Nur dass die Realität das einen Scheißdreck interessiert. Mit einer Lagerhalle voll mit zusammengeschossenen Nazis kann der mit allen Wassern gewaschenen Ermittler der Mordkommission gut umgehen, nichts Ungewöhnliches in seinem Job… ein Fass mit verbrannten Baby-Leichen versetzt ihm jedoch einen Schwinger in die Eingeweide. Babys, deren Organe entfernt und gegen Pakete mit Drogen ausgetauscht wurden. Verdammte Scheiße. Diese durchlöcherten Dreckskerle haben es nicht anders verdient. Viel Zeit zum erholen hat Cain nicht, denn der nächste Schlag zerfetzt seine Haut, durchdringt mühelos das Fleisch und reißt ihm das Herz aus der Brust…
Als kurz vor Feierabend drei Pappkartons vor der Filiale einer Kinderschutzvereinigung abgestellt werden, denkt die ahnungslose Mitarbeiterin nichts Böses. Vermutlich wird es sich um eine Spende handeln… wie so oft. Anonym… wie so oft. Nein, diesmal ist es anders. Das, was sie erblickt, wird sie wohl für den Rest ihrer Tage verfolgen. Und als John Cain am Tatort eintrifft, geht es ihm nicht anders… Trotz seiner Erfahrung übersteigt der Inhalt der drei Kisten alles, was er aus Täter-Sicht für menschenmöglich hielt. Bisher. Das menschliche Puzzle, welches er hinterließ, ist an Grausamkeit nicht zu überbieten. Doch die Obduktion der zerstückelten Überreste, durch die Pathologin Wendy Niles, fördert das ganze Ausmaß der Tat zutage: Zum Zeitpunkt, an dem der Täter sein Opfer zersägte, war dieses noch am Leben. Wochenlang wurde die weibliche Person gefoltert. Wieder und wieder… wie ihre Narben beweisen. Ein unvorstellbares Martyrium, das weit über das menschliche Verständnis hinausgeht. Auf dem Revier wird der Chief gegenüber Cain und seinem Partner Amersham konkreter: Der Name des Opfers war Tiffany Amber Payne… und sie war elf Jahre alt.
Vor drei Monaten verschwand Tiffany spurlos. Alle Ermittlungen und Such-Aktionen blieben erfolglos. Nun liegt sie notdürftig zusammengeflickt auf einem kalten Tisch, nachdem ihre Einzelteile aus drei Pappkartons gekratzt wurden. Und laut Wendys Untersuchungen war sie vor 24 Stunden sogar noch lebendig… John Cain, der selbst durch einen schweren Schicksalsschlag gebrandmarkt ist, will alles daransetzen, die Bestie aufzuspüren… und dann Gnade ihr Gott.
Harter Stoff
Ja, die Geschichte geht an die Nieren. „Narben“ ist keine Wohlfühl- oder 0815-Spannungs-Lektüre, die man nach dem Lesen beiseitelegt und aus dem Gedächtnis wischt. Dafür sorgt allein schon der britische Autor Warren Ellis, den Comic-Freunde wohl vor allem durch seine erfolgreiche Serie „Transmetropolitan“, die zuerst beim Speed Verlag und später bei Panini in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurde, kennen dürften, schrieb auch zahlreiche Titel für MARVEL, DC und weitere namhafte Verlage und deren Imprints. Darunter „Stormwatch“, dessen Spin-off „The Authority“, den hochgelobten „Iron Man“-Comic „Extremis“ oder auch die dreiteilige Mini-Serie „Red“, vom WildStorm-Imprint Homage Comics veröffentlicht, die lose als Vorlage für die beiden Action-Streifen mit Bruce Willis, Morgan Freeman, Helen Mirren und John Malkovich diente. Ebenso wie „Narben“, sind auch Ellis‘ Reihe „Gravel“, der „Apparat“-Sammelband „Vier Singles“, die graphische Novelle „Äthermechanik“, „Captain Swing und die elektrischen Piraten von Cindery Island“, „Crécy“ und „Frankensteins Schoß“, welches der Autor ebenfalls als graphische Novelle beschreibt, im Dantes Verlag erschienen.
Mit „Narben“ widmet Warren Ellis sich allerdings nicht dem Phantastischen oder Dystopischen, sondern vielmehr dem realen Horror. Die Altersempfehlung ab 18 Jahren sollte deshalb unbedingt beachtet werden. Auch wenn nicht alle drastischen Details bildlich dargestellt werden, ist die sechsteilige Mini-Serie, die hier als Paperback abgeschlossen vorliegt, nichts für zarte Gemüter. Das Vorwort von Matt Fraction (Autor diverser MARVEL-Comics und der Image-Reihe „Sex Criminals“) trägt vielleicht etwas ZU dick auf und schraubt die Erwartungshaltung auf kaum zu erreichendes Niveau, was aber nichts daran ändert, dass „Narben“ wehtut. Der Comic, der auch zahlreiche Texte von Warren Ellis selbst und zwei Beiträge von „Punisher“-Szenarist Steven Grant enthält, wird jeden Leser, jede Leserin treffen… und Gefühle nicht nur wecken, sondern regelrecht aufwirbeln. Dunkle Gefühle.
Viel Grau…
…in einer Welt, die in Ellis‘ „Narben“ nur aus Schwarz und Schwärzer zu bestehen scheint. Ist das Cover-Motiv noch koloriert, wird im Innenteil gänzlich auf Farbe verzichtet. Anders hätte ich es mir auch nicht vorstellen können, denn die Geschichte ist derart düster und trostlos, von Rache und Abscheu getrieben, dass jeder Farbklecks deplatzierter gewirkt hätte, als hemmungsloser Sex in einem Disney-Cartoon. Dafür ist der Kalifornier Jacen Burrows verantwortlich, der mit feinen Strichen und einem guten Sinn für Details den markerschütternden Thriller aufs Papier gebracht hat. Bemängeln könnte ich hier höchstens, dass die Charaktere manchmal etwas steif wirken und die Mimik hier und da zu wünschen übriglässt. Mehr Schattierungen wären ebenfalls wünschenswert gewesen, was die Story wohl nochmals deutlich verdunkelt hätte. Nicht, dass sie das nötig hätte, aber so hätte der Look komplett gepasst. Im Ganzen betrachtet aber eine saubere Arbeit des Künstlers, der mit Ellis bereits bei „Dark Blue“, „Bad World“ und „Transmetropolitan“ zusammenarbeitete, aber auch schon für die namhaften Autoren Alan Moore („Providence“ und „Neonomicon“) und Garth Ennis („Chronicles of Wormwood“ und „Crossed“) zeichnete.
Fazit:
Ein abgrundtiefer Cop-Thriller, der keinen Lichtblick durch seine pechschwarze Handlung lässt. Ein Comic, der noch länger nachwirkt, keinen strahlenden Sieger kennt und definitiv nicht in Kinderhände gehört.
Warren Ellis, Jacen Burrows, Dantes Verlag
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