Text:   Zeichner: Frank Schmolke

Nachts im Paradies

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Marcel Scharrenbroich
9101

Comic-Couch Rezension vonSep 2019

Story

Das harte Taxler-Geschäft, aus erster Hand erzählt. Wenn die „Untoten“ die Theresienwiese verlassen, beginnt die Schicht. Und niemand kann sagen, wie sie endet… Herausragend erzählt.

Zeichnung

Pechschwarze Skizzierungen auf blütenweißem Papier. Selten hat ein Kontrast besser gepasst, als in „Nachts im Paradies“. Aus der sicheren Entfernung ist München bei Nacht definitiv einen Abstecher wert.

Nachts sind alle Wölfe grau…

„Ja mei, is' denn scho' wieder Oktoberfest?“

…mag sich so mancher fragen. Und JA, bei genauem Blick auf den Kalender wird klar, dass das Jahr wieder gnadenlos voranprescht und pünktlich zum Herbstbeginn, wie in jedem Jahr, d’Wiesn zum fröhlichen Schunkeln und Ballern einlädt. Das größte deutsche Volksfest findet wie eh und je auf der Münchner Theresienwiese statt und die bayrische Landeshauptstadt befindet sich für zwei Wochen im Ausnahmezustand. Ein paar beherzte Schläge auf den Hahn und „O’zapft is!!!“ Möglichst angemessen gekleidet, in Dirndl und Lederhosen, zieht die Gaudi jährlich mehrere Millionen Besucher aus aller Welt an, die gerne bereit sind, für einen Humpen… Verzeihung, für eine Maß Bier (2019 zwischen 10,80 und 11,80 € pro maximal 0,9 Liter Inhalt) und ein halbes Hendl (zwischen 11,50 und 16,00 €) tief in die Taschen zu greifen. Für ‘ne Portion Schweinshaxe kannste direkt ‘nen Zwanni auf den Festzelt-Tisch knallen. Wohl bekomm’s…

Das Dienstleistungsgewerbe reibt sich die Hände, denn bei Hoteliers, Gastwirten, Sicherheitspersonal, den Damen des ältesten Gewerbes der Welt und nicht zuletzt den Taxifahrern herrscht für 14 Tage Hochkonjunktur. Zur letztgenannten Gattung gehört auch Vincent. Mit allen Wassern gewaschen, kurvt er seine Fahrgäste, vornehmlich als Nachtfahrer, durch die Großstadt. Oktoberfest heißt Fahrten am Fließband, gutes Trinkgeld und meist längere und dadurch lohnenswertere Fahrten, im Gegensatz zu den Kurzstrecken bei Tag, bei denen man höchstens mal ältere Herrschaften zu Ärzten kutschiert. Allerdings braucht man nachts auch ein deutlich dickeres Fell. Man kann nie wissen, wer sich da ins Fahrzeug setzt… und vor allem, in welchem Zustand ein Fahrgast zusteigt. Dies merkt auch Vincent schnell bei seiner nächtlichen Tour…

München sehen… und sterben?

Schräge Gestalten, knausrige Geschäftsleute, notgeile Schnapsleichen, ein vollgekotztes Taxi, eine Faust in der Visage und geklaute Einnahmen. Feierabend.

Dem analogen Vincent, der nichts von Technik-Schnickschnack hält und nicht mal ein Handy besitzt, ist dadurch entgangen, dass seine sechzehnjährige Tochter ihn für eine ganze Woche besucht, da seine geschiedene Frau für eine Woche beruflich außer Landes ist. Trotz der Trennung ist das Verhältnis von Vater und Tochter liebevoll… was nicht ganz selbstverständlich im Teenager-Alter ist. Doch Anna ist clever und kann auf sich selber aufpassen… glaubt sie zumindest.

Während Vincent durch Zufall an einen osteuropäischen Zuhälter gerät und eine seiner Ladys (für einen fürstlichen Lohn) durch die Stadt chauffiert, dabei selber aber in dunkelsten Gassen des Nachtlebens entgleitet, geht seine Tochter an anderer Stelle durch die Hölle. In einem Club wurde ihr Drink mit Drogen versetzt und nun irrt sie durch die Nacht. Ein Haufen abgefuckter Jugendlicher, die ihr Resthirn bereits weggeschnupft haben und nur noch mit der zu tief sitzenden Hose denken, haben sich bereits an Annas Fersen geheftet. Auf sich allein gestellt und in einem Mix aus Wahn und Wirklichkeit gefangen, nimmt sie Reißaus… und die sabbernden, zähnefletschenden Wölfe hauchen ihr bereits triebgesteuert in den Nacken.

„Sind sie frei?“

Autor und Zeichner Frank Schmolke weiß genau, was er da schreibt und zu Papier bringt. Jahrelang fuhr er selber Taxi in der Großstadt und skizzierte schon früh illustre Fahrgäste, die er in seinem stets mitgeführten Notizbuch verewigte. Ganz schrägen Kunden wurden Tiergesichter verpasst, die auch in „Nachts im Paradies“ wieder zum Vorschein kommen, was der Geschichte haargenau in den richtigen Momenten eine surreale Ebene hinzufügt, für die sich das Medium Comic perfekt eignet. Herausgekommen sind Underground-artige schwarz-weiß-Skizzierungen, die genauso dreckig, roh und nachtschwarz sind, wie die düstere Seite der Großstadt, die sie portraitieren. Treffend zeichnet Schmolke die umherwandernden Alkohol-Leichen als stumpfe Zombie-Horden, die scheinbar ohne Ziel und mit leerem Blick durch die Pampa schlurfen. Dann mutiert Vincents röhrende Ducati zu einem prächtigen, schwarzen Hengst, der sich auf einer eindrucksvollen Doppelseite wieder ins motorisierte Zweirad transformiert. Für mich die stärkste Szene im ganzen Buch.

Aktuell schon in der zweiten Auflage, ist „Nachts im Paradies“ beim Verlag Edition Moderne veröffentlicht worden. Das wuchtige Softcover fasst satte 352 Seiten, die zum Eintauchen einladen. Das detaillierte Cover-Motiv besitzt Wimmelbild-Charakter und stimmt gut auf den Inhalt ein. Sämtliche Schriften auf Vorder- und Rückseite sind - im Gegensatz zum matten Motiv - hochglänzend und geprägt.

Fazit:

Ein harter und realistischer Einblick in Münchens Nachtleben. Ungeschönt legt Frank Schmolke den Finger in die triefende Wunde, die die Schattenseite des Oktoberfestes symbolisiert. Eine herausragende, authentische Graphic Novel, die man nicht mehr aus der Hand legen mag. Die Zeichnungen spiegeln perfekte Underground-Atmosphäre wieder, die die Authentizität des Werkes zusätzlich betont.

Nachts im Paradies

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