Theben sehen … und sterben
Ödipus, König von Theben, ist tot! Nun liegen die Nachkommen Eteokles und Polyneikes miteinander im Clinch darüber, wer den Thron erben soll. Sie schließen einen Pakt: Der eine soll ein Jahr regieren, der andere das Folgejahr; als der ältere wird Eteokles den Anfang machen. Doch als die Zeit kommt, weigert er sich, das Feld zu räumen; dies würde die Lage zu sehr destabilisieren. Polyneikes droht an, militärisch gegen ihn vorzugehen – zunächst im Scherz. Doch als Eteokles nicht nachgibt, zieht Polyneikes tatsächlich in den Krieg gegen Theben. Eine blutige Schlacht vor den Stadttoren kostet beide Brüder das Leben.
Kreon, Eteokles‘ Onkel, in dessen Gunst er von Anfang an stand, schwingt sich zum Regenten auf und lässt seinem Neffen ein ehrenvolles Staatsbegräbnis zuteilwerden. Die Leiche von Polyneikes jedoch soll nicht bestattet werden, sondern vor den Toren der Stadt liegenbleiben und dort verrotten. Ohne die letzten Riten wird Polyneikes der Eintritt in den Hades verwehrt – dies soll die gerechte Strafe dafür sein, dass er sich angemaßt hat, seine eigene Heimatstadt anzugreifen.
Doch Antigone, Tochter des Ödipus und Kreons Sohn Haimon zur Ehe versprochen, will diesen Affront gegen die Götter nicht dulden. Sie verstößt gegen das durch Kreon ausgesprochene, geltende Recht und schleicht sich nachts heimlich aus der Stadt, um Polyneikes‘ Leiche mit Erde zu bedecken. Wird sie sich gegen Kreon durchsetzen? Oder wird der Streit am Ende alle ins Verderben stürzen ..?
„Ich hoffe, alles wird gut für dich.“
– „Nichts ist ungewisser als das ...“
In der Reihe Mythen der Antike des Splitter-Verlages werden in Graphic-Novel-Form Motive, Figuren und Szenen aus der antiken griechischen Sagenwelt aufgegriffen. Die epischen Geschichten um Götter und Menschen visuell zu bearbeiten, ist eine naheliegende Idee – und auch der vorliegende Band enttäuscht nicht. Sophokles‘ Antigone gehört zu den klassischen griechischen Tragödien. Da die Charaktere dieser Legenden alle miteinander verbunden sind und die einzelnen Erzählungen auf eine lange Historie zurückblicken, kann es für Neueinsteiger allerdings schwierig sein, in den Stoff hineinzufinden, da die Hintergründe und Vorgeschehnisse der Familiengeschichten zwar erwähnt, jedoch nicht dezidiert aufgegriffen werden. Dies schmälert aber nicht die Qualitäten des Comics und könnte sogar dazu anregen, sich dieses Vorwissen mit geweckter Neugier selbst anzueignen. Die Adaption in einem visuellen Medium erleichtert außerdem den Überblick über das komplexe Personenregister.
„Sie kämpft nicht nur gegen dich, sondern gegen ihr eigenes Schicksal“
Schlägt man den Einzelband auf, wird man gleich zu Beginn von einem Tableau der griechischen Götter auf dem Gipfel des Olymp begrüßt. Dies schafft die richtige Stimmung und ist außerdem sehr liebevoll gestaltet. Leider ist das Figurendesign im Comic selbst nicht ausnahmslos und durchgängig auf demselben Niveau. Größtenteils kann man jedoch dem Geschehen folgen und die einzelnen Akteure auseinanderhalten. Besonders die gegensätzlichen Hauptfiguren Kreon und Antigone sind ansprechend und ausdrucksstark geraten. Dem Künstlergespann Clotilde Bruneau, Giuseppe Baiguera und Ruby gelingt es vor allem, die Welt Thebens lebendig und glaubhaft zu gestalten und in ihrer ganzen epischen Weite auszubreiten. Dabei treffen sie auch in der Farbgestaltung die richtige Balance zwischen Realismus und Mystik. Hier und da könnte man sich ein bisschen mehr Experimentierfreunde herbeisehnen, doch die Schlüsselszenen (so z.B. das tragische Schicksal der Titelfigur) überzeugen ästhetisch auf ganzer Linie und gehen nahe. So entfesselt die Graphic Novel eine starke immersive Kraft – die auch nötig ist, um den Inhalt zu transportieren.
„Für mich zählt allein das Gesetz der Götter“
Die griechische Antike – und damit natürlich auch ihre Sagenwelt – ist ein unabdingbares Fundament für die uns heute vertrauten gesellschaftlichen und politischen Ideen. Ziel dieser Reihe ist es also nicht nur, alte Geschichten in neuem, aufregendem Gewand zu erzählen und einem jungen Publikum näherzubringen, sondern auch, künstlerisch zu hinterfragen, welche zeitlose Bewandtnis diese auch für uns noch haben können. So ist - wie alle Bände der Reihe - auch dieser mit einem (allerdings sehr schmal geratenen) Ergänzungsteil ausgestattet; hier beschäftigt sich Autor Luc Ferry mit der Hegelschen Interpretation von Sophokles‘ Stück. Danach liegt die Tragik eben genau in der Tatsache begründet, dass der Konflikt zwischen zwei unvereinbaren, aber in sich jeweils nicht nur nachvollziehbaren, sondern legitim vertretbaren Positionen stattfindet – ausgetragen von integren Personen, die als Vertreter höherer Instanzen und somit „außermoralisch“ handeln. Da aus diesen Gründen jene zwei Positionen nicht dauerhaft koexistieren können, muss am Ende die Vorsehung eingreifen, wieder eine Ordnung herzustellen – zum Leidwesen aller menschlichen Beteiligten. Neben optisch ansprechenden Bildern wird hier also auch echter Stoff zum Nachdenken geboten.
Fazit:
Wer große Actionszenen oder ein Schlachtenspektakel erwartet, wie man es aus den berüchtigten Sandalenfilmen kennt, wird von dieser Graphic Novelvielleicht eher enttäuscht sein. Wer sich jedoch für Mythen der Antike begeistert (bzw. offen dafür ist, sich dafür begeistern zu lassen) oder für gut gemachte Adaptionen mit philosophischem Gehalt interessiert, dürfte hier fündig werden. Antigone ist für diejenigen, die sich in der griechischen Sagenwelt (noch) nicht auskennen, vielleicht nicht der beste Einstieg, für sich genommen als Einzelband aber zu empfehlen.
Luc Ferry, Clotilde Bruneau, Giuseppe Baiguera, Splitter
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