Die Abenteuer eines langen, laaaaangen Lebens…
Zwischen Wahn und Wirklichkeit
Ezra Winston ist ein in die Jahre gekommener Antiquar, der seinen Laden im Londoner-Stadtteil Chelsea betreibt. Sowohl im Verkaufsraum als auch im Hinterzimmer finden sich unzählige Dinge, die - könnten sie sprechen - so Einiges zu erzählen hätte. Als der zwielichtige Straßenhändler, den man gemeinhin nur den „Knochenmann“ nennt, da er günstig Besitztümer Verstorbener aufkauft, Ezra ein rein optisch schon abscheuliches Artefakt anbietet, ist selbst der Antiquitätenhändler in dritter Generation erstaunt. Das spinnenartige Amulett, welches in einer Zeitungsseite, die über die Hinrichtung eines gewissen Mort Cinder berichtet, eingewickelt war, hinterlässt nämlich bleibende Spuren. Und das wortwörtlich, denn einmal angefasst, bekommt Ezra den dunklen Abdruck des Amuletts nicht mehr von der Hand gewaschen. Panisch geht er vom Schlimmsten aus… etwa einer kalten Verbrennung, einer Sepsis… oder ist das Material des Amuletts gar radioaktiv? Unterbrochen wird seine Sorge lediglich durch das Auftauchen dreier Fremder in seinem Laden. Sie suchen nach dem „Knochenmann“ und durchbohren den Verkäufer mit ihren starren Blicken, die Ezra als „Augen aus Blei“ wahrnimmt. Von seinem Ankauf verrät er den Männern aber nichts. Wohl ein weiser Instinkt, der aus dem Nichts zu kommen schien.
Schon auf dem eiligen Weg zum Hautarzt wird Ezra erneut mit dem mysteriösen Mal konfrontiert, als es ihm auf der Wange eines Polizisten erscheint. Auch der Zeitungsartikel über den hingerichteten Mann scheint ihn zu verfolgen. Als sich dann die drei Männer mit den Bleiaugen in einer Gasse mit gezückten Messern auf ihn stürzen, glaubt Ezra nicht mehr an Zufälle oder eingebildeten Verfolgungswahn. Hier muss es einen Zusammenhang geben, der sich ihm nur noch nicht erschließt.
Nachdem Ezra das seltsame Mal auch beim Arzt begegnete, setzt sich das unheimliche Spiel nach Verlassen der Praxis fort. So wird er - fast wie von unsichtbarer Hand - zum nahgelegenen Friedhof geführt. Zum noch frischen Grab von Mort Cinder.
Fast zeitgleich treffen die Bleiaugen ein, vor denen sich der Antiquar im letzten Moment verstecken kann. Scheinbar haben sie es auf den Leichnam des Mannes abgesehen. Planen, ihn mit einer Eisenstange - aus welchen Gründen auch immer - zu durchbohren. Einer wagemutigen List Ezras ist es zu verdanken, dass die Fremden unverrichteter Dinge wieder abziehen müssen. Viel Zeit zum durchatmen bleibt ihm aber nicht, denn an Ort und Stelle macht Ezra Winston Bekanntschaft mit Mort Cinder… der sich quicklebendig aus seiner vermeintlich letzten Ruhestätte erhebt.
Aus erster Hand…
…erfährt Ezra, dass Mort Cinder bereits seit langer Zeit auf unserer Erde wandelt. So lange, dass er detailliert von historischen und zeitgeschichtlichen Ereignissen berichten kann. Stichwortgeber für die Ausflüge in vergangene Zeiten sind oft die zahlreichen Antiquitäten, die im Laden von Ezra Winston Staub ansetzen. Mort Cinder, ein ruhiger, sanftmütiger Hüne, durchlebt diese mal prägenden, dann wieder kleinen und intimen Momente durch seine Erzählungen erneut hautnah… und mit ihm wir Leser. Doch zuerst müssen sich Mort und Ezra den Bleiaugen und dem wahnsinnigen Drahtzieher, in dessen Auftrag die Männer handeln, entgegenstellen. Ein Abenteuer, welches nicht durch direkte Konfrontation, sondern durch trickreiche List gemeistert werden will. Das Erlebte schweißt den alten Händler und den noch viel, viel älteren Auferstandenen von fragwürdiger Vergangenheit eng zusammen.
Der Zeit voraus
Bedenkt man, dass die Geschichten von und mit „Mort Cinder“ mehr als sechzig Jahre auf dem Buckel haben, mag man fast ungläubig mit dem Kopf schütteln. „Mort Cinder“ ist weitaus mehr als das, was man sonst als Freund übernatürlicher Phantastik aus dieser Zeit gewohnt ist, in der es meist Horror-Kurzgeschichten in Comic-Magazinen wie „The Haunt of Fear“, „The Vault of Horror“ oder „Tales from the Crypt“ in die Hände der Leserschaft schafften. Das mag daran liegen, dass der argentinische Journalist und Autor Héctor Germán Oesterheld (1919 – 1977) einerseits als Pionier des phantastischen Erzählens gilt, und auf der anderen Seite mehr zu erzählen hatte, als Autoren amerikanischer Pulp-Comics, die sich zwar größter Beliebtheit erfreuten, jedoch auch im Zentrum zahlreicher Kontroversen standen. Oesterheld liefert keinen plakativen Horror, seine Arbeit zeichnet sich durch feine Beobachtungsgabe aus. Sozialkritisch, durchdacht, hinterfragend und visionär. So nahm sein wegweisendes Werk „Eternauta“ (zeichnerisch umgesetzt von Francisco Solano López und ebenfalls bei AVANT erschienen) um einen Zeitreisenden, welches ab September 1957 zuerst als Fortsetzungsgeschichte im argentinischen Comic-Magazin „Hora Cero“ veröffentlicht wurde, die Argentinische Militärdiktatur (1976 – 1983) vorweg, der Héctor Germán Oesterheld und der Großteil seiner Familie tragischerweise später zum Opfer fielen. Sie verschwanden 1977 spurlos.
Oesterheld selbst schrieb 1969 ein Remake seines viel beachteten Werks, für das er einige Änderungen an der Geschichte vornahm. Künstlerisch setzte „Eternauta 1969“ (AVANT) Alberto Breccia (1919 – 1993) um, der zuvor bereits mit Oesterheld „Mort Cinder“ zum Leben erweckte. Und lasst Euch gesagt sein, liebe Comic-Freunde, dass einem das, was Breccia auf die Seiten gezaubert hat, nicht jeden Tag in die Finger fällt. Geboten wird schwarz-weiße Kunst in reinster Form, die meisterhaft mit Licht und Schatten spielt. Ähnlich sah man es Jahre später beispielsweise in Arbeiten von Frank Miller („Sin City“), der trotz grandiosen Storytellings von einem Detailgrad Breccias nur träumen kann. Selbst Tusche-Kleckse oder verschmierte Flächen im Hintergrund sehen in „Mort Cinder“ kunstvoll und stilsicher aus. Breccia jongliert hier artistisch mit allen Werkzeugen, um seine schattierten Bilder lebendig werden zu lassen, sodass es für Comic-Liebhaber ein wahres Fest ist.
Aus Alt mach Neu… aber in GUT!
Nachdem es 1991 und 1992 bereits zwei „Mort Cinder“-Softcover-Alben aus dem CARLSEN Verlag gab, hat AVANT nun die großformatige Hardcover-Gesamtausgabe im Programm. Und die lässt keine Wünsche offen. Hab ich lediglich am späteren Verlauf der Geschichte(n) etwas zu mäkeln, da nach dem fulminanten und äußerst spannenden Auftakt kürzere Episoden folgen, die trotz interessanter (und abwechslungsreicher) Prämissen stets nach dem selben Muster aufgebaut sind, bekommt die Präsentation der schweren Gesamtausgabe uneingeschränktes Lob.
Der Großteil der Originalseiten wurde aufwändig neu gescannt, um eine bestmögliche Qualität zu liefern. Für den Rest wurde vorhandenes Material restauriert, damit dem durchgängigen Lesevergnügen auf optischem Höchstniveau nichts im Wege steht. Da „Mort Cinder“ im argentinischen Original zuerst im Magazin „Misterix“ veröffentlicht wurde, welches Zeit seiner Publikation gleich mehrfach das Format wechselte, wirkt sich das auch auf die Darstellung der Geschichte aus. Erfreulicherweise entschied man sich dafür, die Seiten im ursprünglichen Zustand zu belassen und nicht nachträglich neu zusammenzubasteln. So finden sich die Seiten 19 bis 65 im Querformat. Das stört den Lesefluss keineswegs und respektiert die künstlerischen Ursprünge.
Im Anhang gibt es mit „Die Kutsche nach Cuchillo“ noch ein unvollendetes Szenario von Héctor Germán Oesterheld, welches zeichnerisch nie von Breccia umgesetzt wurde. Ganz im Urzustand, wie es der Autor hinterlassen hat.
Fazit:
Jedes einzelne Panel ist ein Genuss. Alberto Breccia war ein zeichnerisches Genie, was er - versiert in unterschiedlichen Techniken - auf jeder Seite dieser uneingeschränkt empfehlenswerten Gesamtausgabe unter Beweis stellt. Abgesehen von der packenden Geschichte um Mort Cinder und Ezra Winston ist die visionäre Arbeit von Breccia schon Grund genug, sich dieses Buch in die Sammlung zu holen.
Héctor G. Oesterheld, Alberto Breccia, Avant
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