Mit leeren Augen

Mit leeren Augen
Mit leeren Augen
Wertung wird geladen
Marcel Scharrenbroich
7101

Comic-Couch Rezension vonJun 2023

Story

Ein gelungener Twist zwischen Drama und Mystery entschädigt leider nicht vollends für bereits bekannte Genre-Zutaten. Das macht „Mit leeren Augen“ zwar nicht zu einem schlechten Comic, aber halt auch nicht zu einem nachwirkenden Meisterwerk.

Zeichnung

Verwaschen, zart und trotzdem roh und brutal. Eine gelungene Gratwanderung, die sowohl die dramatischen Aspekte als auch drastischen Gewalthandlungen in ansehnlichen Bildern einfängt.

Der Hunger treibt’s rein…

Mahlzeit!

Die Zeiten sind grau und düster. Vor der Tür des spärlich besetzten Waisenhauses tobt noch immer der Erste Weltkrieg. Die Geschwister Ofelia und Otto irren durch die angrenzenden, fast schon gespenstischen Wälder, um Überlebende zu finden. Soldaten, einsam und abgeschnitten von ihren Kameraden. Verletzte, von feindlichen Angriffen verwundet. Sie bieten den Männern einen Unterschlupf. Zum Rasten und Ruhen. Einen kurzen Moment der Sicherheit, bis ihnen der wahre Grund der gespielten Gastfreundschaft mit geschärfter Klinge durchs Fleisch schneidet. Ofelia und Otto sind nichts anderes als Jäger, ausgesandt von Maurice, dem teuflischen Satansbraten der ehemaligen Heimleitung. Ihre Beute liefert die Nahrung für die drei Kinder. Kannibalismus… sagen wir’s, wie es ist.

Maurice Nurk führt die Einrichtung seiner Eltern wie ein kleiner Tyrann. Widerworte gibt es nicht und läuft etwas nicht nach seinen Spielregeln, folgen drakonische Strafen. Bevor das Menschenfleisch auf den Tisch kommt, zelebriert der dicke Mini-Despot den Zubereitungsprozess regelrecht. Außerdem entfernt er seinen Opfern fachmännisch die Augen, die er in Einmachgläsern aufbewahrt. So verfuhr er auch bei den anderen Waisenkindern, die - dahingerafft von Typhus - vor sich hin verwesend noch immer in ihren Betten liegen. Dort, wo sie sich eigentlich am sichersten hätten fühlen sollen. Man kann also guten Gewissens sagen, dass der fettleibige Bub nicht mehr alle Latten am Zaun hat.

Das bleibt auch Ofelia und Otto nicht verborgen. Während das Mädchen aus Angst nicht wagt, gegen den Wahnsinnigen das Wort zu erheben und zur Mitläuferin wird, macht Otto keinen Hehl aus seiner Abneigung gegen Maurice und dessen Schreckensherrschaft. Zuflucht findet er bei den sicher verwahrten Puppen und Kuscheltieren seiner verstorbenen Freunde, denen - selbstverständlich - ebenfalls die Augen entfernt wurden. In ihrer Nähe fühlt er sich seltsam geborgen. Als Otto dann heimlich ein Glas mit Augen stibitzt und diese in die leeren Höhlen der leblosen Geschöpfe einsetzt, geschieht Unglaubliches.

Als dann ein deutscher Pilot in der Nähe des Waisenhauses abgeschossen wird, sieht es zuerst danach aus, als würde die Speisekammer wieder nach Plan aufgefüllt werden, doch mit dem mehrköpfigen Suchtrupp hatte niemand gerechnet. Für Maurice wird es riskant, denn er kann die Charade der ach so hilflosen Kinder nur noch schwer aufrechterhalten. Und die späte Rache der toten Kinder steht auch noch aus...

Maurice Rising

Dass wir es bei „Mit leeren Augen“ keinesfalls mit einem Comic für Kinder zu tun haben, beweist nicht nur die kleine Inhaltsangabe. Ein signalroter Sticker auf der Folie warnt, dass dieser Comic erst „Ab 18 Jahren“ empfohlen sei. Nun, das kann man halten wie ein Dachdecker, denn Verkaufsverbote an Minderjährige gibt es im Gegensatz zu altersmäßig eingestuften Games und Filmen bei Comics nicht. Dennoch sollte der abgeschlossene Einzelband nicht unbedingt in die Hände jüngerer Leserinnen und Leser geraten, da er sehr grafisch in der Darstellung diverser Brutalitäten ist. Vom Splatter sind wir zwar noch einige Meter entfernt, dafür ist die Tatsache, dass die unschöne Sauerei hier von Kindern begangen wird, in ihrer Sache schon recht drastisch. Ekelpaket Maurice erinnert mit seinen psychopathischen Zügen an den jungen Hannibal Lecter, der mit Sicherheit irgendwo im Hinterkopf als Inspirationsquelle diente. Insgesamt erinnert das Setting von Autor Diego Agrimbau unweigerlich an des Feinschmeckers Vorgeschichte „Hannibal Rising“, wenn auch mit vertauschten Rollen. Dann wird das Ganze noch mit Puppen-Horror à la „Chucky“ oder „Annabelle“ garniert, und fertig ist der Horror-Cocktail mit süffigen Genre-Zutaten. Das liest sich insgesamt okay und wartet mit ein paar bösen Twists auf, doch leider verstörte mich der Comic nicht so, wie er es auf Grund seiner Handlung vielleicht sollte. Nennt mich abgestumpft, aber damit konnte mich Agrimbau nicht dauerhaft bei der Stange halten. Ferner wurde der Schauplatz des Ersten Weltkrieges meiner Meinung nach nicht optimal genutzt, da wir mehr Zeugen eines Kammerspiels werden, als dass die Grausamkeiten des Krieges nachhaltig im Geschehen Fuß fassen. Die Auswirkungen sind da und sicherlich auch Stein des Anstoßes, gewiss, doch der schreckliche Rahmen muss in der Imagination der Leser entstehen.

Die (offensichtlich digitalen) Bilder des Argentiniers Juan Manuel Tumburús sind mit ihrem verwaschenen Look ein wahrer Hingucker. Selten sahen Grausamkeiten und menschliche Abgründe so sanft und beinahe unschuldig aus. Er nutzt den limitierten Handlungsort des Waisenhauses optimal und setzt jeden Winkel ins rechte Licht. Die semi-realistischen Figuren sind mit vielen Eigenheiten gestaltet und die Puppen-Vielfalt könnte einem skurrilen Märchen von Tim Burton entnommen sein. Teils fühlte ich mich auch an bestimmte Szenen aus Katsuhiro Otomos Anime-Meisterwerk „Akira“ erinnert.

Fazit:

Wer mit dem Horror-Genre nicht zwangsläufig auf Du und Du ist, mag vom Inhalt angewidert oder sogar schockiert sein. Kämmt man sich morgens aber schon mit der Splatter-Keule, ruft „Mit leeren Augen“ womöglich nur ein kleines Zucken im Augenlid hervor. Künstlerisch sehr sehenswert, sind die Schwächen für mich in der Story zu finden. Die Brutalität des Krieges gerät durch plakativen Horror aus diversen Genre-Schubladen in den Hintergrund, womit ich nicht ganz glücklich bin.

Mit leeren Augen

Ähnliche Comics:

Deine Meinung zu »Mit leeren Augen«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Alita:
Battle Angel

Der „Große Krieg“ ist seit 300 Jahren vorbei. Unter der gigantischen Himmelsstadt Zalem, der letzten ihrer Art, befindet sich Iron City. Hier sind alle Strukturen zusammengebrochen, was die Straßen - speziell nach Einbruch der Dunkelheit – zum gefährlichen Pflaster werden lässt. Im Jahr 2563 sind Cyborgs keine Seltenheit mehr und viele von ihnen verdienen sich ihr Geld als Kopfgeldjäger… sogenannte Hunter-Warrior. Titelbild: © 2019 Twentieth Century Fox

mehr erfahren