(Klein)stadtgespräch
Gerüchteküche
Hach… das Landleben. Gute Luft, rauschende Bäche und Wälder, nur einen kurzen Fußmarsch entfernt, helfende Hände und ein soziales Miteinander, von dem man als Städter nur träumen kann. Und morgens am besten noch ein frisches Ei aus dem eigenen Hühnerstall. Ein Träumchen, nicht wahr? Ja, das könnte es sein…, wenn denn alles nur so Friede-Freude-Eierkuchen wäre, wie es sich vordergründlich anhört. Nicht falsch verstehen, denn ich möchte hier keineswegs ein gemeinschaftliches Miteinander auf verengtem Raum schlechtreden, aber die Abgeschiedenheit bietet nun mal auch Faktoren, die man als Einzelperson nur schwer beeinflussen kann. Steht man mit den falschen Personen schlecht bzw. auf Kriegsfuß, bekommt man schnell mal einen Stempel der Ächtung auf die Stirn gedrückt. Klatsch und Tratsch verbreiten sich nicht nur am Gartenzaun, sondern rasen wie eine Feuerwalze durch die engen Dorfgassen. Von solch einer Lawine kann man selbst als eigentlich Unbeteiligter schnell mitgerissen werden, schließlich möchte man am nächsten Tag nicht aufwachen, und beim Blick in den Spiegel selbst ein Fadenkreuz, geschaffen aus Neid, Missgunst und Hohn, erblicken.
Merel ist eine Frau in den Vierzigern, lebenslustig und überzeugter Single. In ihrem Dorf, wo jeder jeden kennt und man meist schon miteinander aufgewachsen ist, genießt sie höchstes Ansehen, da sie sich innerhalb der Gemeinschaft engagiert, sich um ihre Mutter im Pflegeheim kümmert und auch für das örtliche Lokalblättchen schreibt. Ein simpler Witz wird ihr aber eines Tages zum Verhängnis. Eine scherzhafte Bemerkung reicht aus, damit eine Frau, die sie eigentlich ihre Freundin nennt, die Gerüchteküche anheizt. Es werden Behauptungen in Umlauf gebracht, die dafür sorgen, dass Merel von ihrem Umfeld mehr und mehr geschnitten wird. Ihr direkt in die Augen zu schauen trauen sich aber die wenigsten. Lediglich der der kleine Finn - und ausgerechnet der Sohn DER Frau, die den Stein ins Rollen brachte - stellt sich auf die Seite von Merel, während alle anderen die böswilligen Behauptungen nicht einmal ansatzweise hinterfragen… und stellt sich damit selbst ins gesellschaftliche Abseits.
Gefangen in der Wohlfühloase
„Aushalten“ lautet die Devise. Die belgische Künstlerin Clara Lodewick seziert das Dorfleben und bricht die (schein)heilige Idylle regelrecht auf. Mit wachsamen Augen blickt sie hinter Fassaden, scheut sich nicht, Keile in das vermeintlich friedvolle Miteinanderleben zu treiben, an welches viele von uns wohl am ehesten denken, wenn man sich einen Wohnort auf dem Land, nah an der Natur, so vorstellt. Am Beispiel von Merel zeigt Lodewick auf, welche Dynamik ein Strudel aus Mobbing und Missgunst ausrichten kann. Ein ausgedehntes Kammerspiel, welches sich so oder so ähnlich theoretisch überall abspielen könnte. Ein Szenario, in dem Betroffenen eigentlich nur zwei Möglichkeiten bleiben: Flucht oder die Flucht nach vorne. Die erstgenannte Möglichkeit lässt wiederum mehrere Möglichkeiten zu: Einigeln und in Selbstmitleid versinken, das Ganze unter schwerem Druck und mit dickem Fell aussitzen oder wortwörtlich flüchten und, vielleicht am naheliegendsten, sogar den Wohnort wechseln. Die Flucht nach vorne dagegen erfordert Stärke und Mut, keine Frage. Sich festgefahrenen Meinungen entgegenzustellen kann auslaugend sein und gleicht nicht selten einem Kampf gegen Windmühlen, wie es uns das aktuelle Politikgeschehen beinahe täglich aufzeigt. Wie die Gerüchteküche auf kleiner Flamme anfängt zu brodeln und sich stetig hochkocht, bis das ganze Haus in Flammen steht, zeigt Lodewicks „Merel“ sehr eindrücklich. Wann ist das Maß voll? Wann ist zu viel ZU viel? Und wie schnell kommt man unter die Räder, wenn man sich mit kleiner Stimme gegen den lauten Mob auflehnt?
Trügerisches Idyll
Nicht nur Merel selbst wird durch eine regelrechte Gefühlpalette gepeitscht, sondern auch die Leute, die ihr nahestehen. Es wäre aber zu einfach, würde sich die Geschichte nur auf die Seite des Opfers schlagen. Die Leserinnen und Leser werden auch Zeugen, wie es hinter den Kulissen der Peiniger aussieht. Ohne hier eine Täter/Opfer-Umkehr heraufzubeschwören, „zwingt“ Clara Lodewick einen dazu, beide Seiten der Medaille zu betrachten. Auch wenn wir für den Vergleich einen thematisch großen Sprung wagen, fühlte ich mich hier an das Videospiel „The Last of Us - Part II“ erinnert, wo man als Spieler nicht darum herumkommt, ab einem gewissen Story-Fortschritt zwangsläufig in die Haut der vermeintlichen Antagonistin zu schlüpfen. Wie viele andere Spieler weltweit, war ich zuerst empört, ja sogar regelrecht verärgert, über diese Muss-Entscheidung der Entwickler. Allerdings war dies unumgänglich, um die Motivation des Charakters zu verstehen. Nicht, um mich mit diesem zu identifizieren, aber um die Wut und den Antrieb immerhin nachvollziehen zu können. Eine denkbar unbequeme Situation, jedoch notwendig für das Aufbrechen eines (zu?) einfachen Schwarz/Weiß-Denkens, wie es auch in „Merel“ der Fall ist.
Die Zeichnungen versprühen eine gemütliche Atmosphäre. Ländlich-entschleunigt und eher einfach gehalten. Simpel, aber aussagekräftig genug, um die Schwere der Geschichte fast schon leichtherzig zu tragen. Im schönen Kontrast zwischen Wort und Bild sind die Farben unspektakulär-unaufdringlich und wurden von mir (vielleicht gerade deshalb) als angenehm empfunden.
Fazit:
„Merel“ ist das Graphic-Novel-Debüt der Belgierin Clara Lodewick. Ein sehr mitreißendes und zugleich aufwühlendes Werk. In der Handlung selbst manchmal etwas sprunghaft erzählt, den Kern des Gewollten aber vortrefflich herausgearbeitet.
Clara Lodewick, Clara Lodewick, Carlsen
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