Jede Medaille hat zwei Seiten
Einst war sie eine betörende Schönheit, doch das Schicksal hatte andere Pläne: Die junge Medusa huldigt der Athene in ihrem Tempel. Dort jedoch wird sie von Poseidon (der sich zunächst in Gestalt eines Pferdes getarnt hatte) vergewaltigt, gebiert gegen ihren Willen den geflügelten Pegasus. Nach dieser Schande wird sie von Athene in ein Ungetüm mit Schlangenhaaren verwandelt und auf die Insel Seriphos verbannt. Ein junger Recke nach dem anderen zieht aus, das gefürchtete Geschöpf zu töten – und einer nach dem anderen erstarrt durch ihren verfluchten Anblick in Stein. Zunächst leidet Medusa unter ihrem ungerechten Los, betrauert ihre Opfer – doch nach und nach findet sie Gefallen daran, der männlichen Übermacht etwas entgegenzusetzen zu haben …
Als Akrisios, König von Argos, prophezeit wird, dass der Sohn seiner Tochter Danaë sein Ende bedeutet, sperrt er diese in einen Turm. Dort zeugt jedoch Zeus, in Form eines goldenen Regens, Perseus mit ihr. Um seine Haut zu retten, verschifft Akrisios Danaë und Perseus, die auf Seriphos, dem Reich von König Polydektes, landen. Polydektes findet Gefallen an Danaë, doch Perseus ist ihm dabei ein Dorn im Auge. Also beschließt er, den Jungen loszuwerden, und trägt diesem auf, ihm das Haupt der Medusa zu bringen, die mit ihrem Blick jeden in Stein verwandeln kann. Perseus aber ist kein strahlender Held, sondern fast noch ein Kind, und muss sich auf seiner Reise gegen so manche Gefahr behaupten. Wird er dank Geistesgegenwart und Einfallsreichtum die Medusa bezwingen können ..?
„Versuch es doch mal aus meiner Perspektive zu betrachten …“
Das Comiczeichnen liegt André Breinbauer im Blut: Der freischaffende Illustrator studierte an der Kunstakademie Nürnberg Grafikdesign und gibt heute Kurse an der Zeichenfabrik in Wien, wo er auch lebt. Er hat bereits zahlreiche, inhaltlich vielfältige Werke, wie z.B. einige Lovecraft-Adaptionen, veröffentlichen können. Mit dem bei Carlsen erschienenen Band Medusa und Perseus widmet er sich einem seiner persönlichen Lieblingsfelder: der griechischen Mythologie.
„Medusa, das Monster. Hässlich wie die Nacht. Nimm dich vor meinem Schwert in Acht!“
Der Clou bei diesem Comic: Er enthält zwei Geschichten, die sich in der Mitte treffen. Ist man dort angelangt, kann man das Buch auf den Kopf stellen und dort mit der nächsten Hauptfigur weitermachen. Auf der einen Seite liest man nämlich vom Abenteuer des Perseus, auf der anderen Seite kommt Medusa selbst zu Wort und darf ihre Geschichte erzählen. Breinbauer nimmt sich einige Freiheiten, was die Präsentation der Mythen angeht, spart manches aus und geht mit den Stories seinen ganz eigenen Weg. So ist Perseus selbst nur ein Spielball der Umstände, macht sich nur aus Not auf den Weg zur Medusa, und zeichnet sich statt durch stereotype Heldeneigenschaften vor allem durch Findigkeit aus. Medusa hingegen wird von Poseidon ihre Unschuld geraubt. Jedoch ist sie diejenige, der für den Affront zur Buße ein ewigwährendes Stigma aufgedrückt wird. Besonders in diesem Teil schwingt dementsprechend ein sozialkritischer Unterton mit, der – wie Eva Steindorfer in ihrem Vorwort (bzw. ihren Vorwörtern) auch ausführt – explizit beabsichtigt ist. Die griechische Mythologie war im Laufe der Zeit schon immer großen Wandel und stets neuen Interpretationen unterworfen, berichtet von Helden, Göttern und Menschen, die mal Selbstloses, mal Schreckliches tun – doch selten ist die Welt schwarz/weiß! Sich diesen Legenden aus neuer Perspektive zu nähern und ihnen (wortwörtlich) zwei Seiten zu geben, ist daher eine kongeniale Idee Breinbauers. So ist das Leseerlebnis jedes Mal ein anderes, je nachdem, mit welcher Seite man beginnt.
„Die Götter sind nichts als eitle, verzogene Kinder mit zu viel Macht“
Breinbauers breite, wilde Tuschestrichführung und das eigenwillige, sehr stilisierte, aber im traditionellen Comicstil dynamisch geratene Figurendesign erinnern entfernt an Alex Ignatius‘ Arbeiten an Pilger Mu. Auffällig sind die rosa gefärbten Nasen, die den Gesichtern einen visuellen Fokus verleihen. Perseus ist weniger ansprechend gestaltet, seine kindliche Unbedarftheit kommt jedoch gut zum Ausdruck und bietet einiges an Projektionsfläche. Er versucht lediglich, sich in einer Welt, die er nicht versteht, gegen Kräfte zu behaupten, die weit über seinen Kopf gehen – ein klassischer Initiationsritus. Mehr und mehr vereinnahmt er die Leserschaft dabei, sodass man ihn irgendwann anfeuert, wenn er einen neuen Freund im ruppigen Dimos findet, sich gegen die knorrigen Graien durchsetzt, auf Pegasus reitet und schließlich dem Blick der Medusa mit einer List entgeht.
Im Vergleich zu Medusas Geschichte fällt Perseus jedoch ein wenig ab. Hier zieht Breinbauer alle Register, macht den Menschen hinter dem Ungetüm sichtbar, nutzt Effekte und künstlerische Variationen, um den emotionalen Gehalt bestimmter Szenen zu transportieren, und lässt uns an ihrem Leid, aber auch an ihrer entfesselten weiblichen Macht teilhaben. Besonders die kreative Farbgebung macht diese Hälfte des Bandes zu einem wahren Augenschmaus. Hinzu kommt, dass Breinbauer kein Blatt vor den Mund nimmt, vor der Derbheit einiger Szenen nicht zurückschreckt und seine Figuren in einem sehr modernen, umgangssprachlichen Ton sprechen lässt, der ein breites Publikum erreichen dürfte. So gehen Text und Optik eine gelungene Symbiose ein, welche die Mythen, die man so gut zu kennen glaubt, in ein völlig neues Licht rücken.
Fazit:
Was macht einen Helden aus, was ein Monster? Sollte man alles auf den ersten Blick glauben, oder liegen echte Wahrheiten tiefer verborgen? André Breinbauer eröffnet mit diesem unterhaltsamen Doppelband, der einen gekonnt auf die Seite derjenigen Figur zieht, deren Geschichte man gerade folgt, eine eigenwillige, aber faszinierende Perspektive auf die Mythen der griechischen Antike.
André Breinbauer, André Breinbauer, Carlsen
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