Schwarz wie die Einsamkeit, rot wie der Schmerz
1797: Der Vater ist anarchischer Philosoph und Rationalist mit seinen ganz eigenen Vorstellungen von der Kindererziehung, die Mutter, eine bekannte Frauenrechtlerin, stirbt kurz nach der Geburt – Mary Wollstonecraft Shelley ist von Geburt an fürs Leben gezeichnet. Aus erster Hand lernt sie Emotionen wie Schmerz und Einsamkeit, aber auch brennende Liebe kennen. Ihr Leben wird ein einziges Auf und Ab. Sie macht sich Freunde wie Feinde, geht ihren eigenen Weg, ist stets auf der Suche nach intellektueller Selbstverwirklichung. Diese Comic-Biographie begleitet sie vom eigensinnigen, aber eher unscheinbaren Mädchen zur Schöpferin des modernen Prometheus …
„Wie gefährlich Wissen ist und wie viel glücklicher der Mensch, welcher seine Geburtsstadt für die Welt hält, als derjenige, der größer werden will, als es seine Natur erlaubt“
Die meisten kennen wohl die Geschichte: Ein Jahrhundertsturm hält 1816 die Freunde und Literaten Lord George Gordon Byron, Mary Godwin Wollstonecraft, ihren zukünftigen Ehemann Percy Bysshe Shelley, ihre hochschwangere Halbschwester (und Byrons ehemalige Geliebte) Claire Clairmont sowie den Autoren und Mediziner John Polidori in der Villa Diodati am Genfer See gefangen. Als kleine Herausforderung (möglicherweise aus der puren Langeweile erwachsen) fällt der Vorschlag, dass alle Anwesenden eine Geschichte schreiben sollten – eine, die echte Angst verbreiten kann. Aus dieser schicksalhaften Nacht geht – aus Marys Feder – der Roman Frankenstein, oder: Der moderne Prometheus hervor, eines der einflussreichsten und vielschichtigsten Werke der Horror- und Fantastikliteratur. Die Inspiration der Geschichte, welche raffiniert mit Ängsten der Zeit vor wissenschaftlichem Fortschritt spielt, sei ihr im Traum gekommen.
Jener Jahrhundertsturm hatte eindeutige Ursachen: In Indonesien war der Vulkan Tambora ausgebrochen. Es handelte sich dabei um eine der heftigsten je aufgezeichneten Eruptionen, die nachhaltigen Einfluss auch auf das europäische Klima nahm – eine Art Schmetterlingseffekt, in der eins ganz unerwartet zum anderen führt und die Verkettung der Ereignisse in der Kreation eines literarischen Meisterwerkes gipfelt. So wird dieser Schlüsselmoment auch in der Graphic Novel von Manuela Santoni und Alessandro Di Virgilio dargestellt.
„Ich möchte, dass sie als Philosophin und Zynikerin erzogen wird“
Die Graphic Novel führt (nicht immer chronologisch) durch das Leben von Mary Shelley und beleuchtet dabei wichtige Eckpfeiler ihres Werdens, die vermutlich für viele neu und überraschend sein dürften. Das macht den Comic zu einer anregenden Lektüre. In großen Panels wird von den außergewöhnlichen Eltern erzählt, berichtet, wie der Vater scheinbar die kleine Mary für den Tod seiner Frau verantwortlich machte, wie sie zuhause unterrichtet wird und behütet, oftmals gar einsam aufwächst, aus der Freundschaft mit ihrer späteren Halbschwester Claire Kraft schöpft, den Romantiker Percy Shelley kennenlernt (den später ein tragisches Schicksal ereilen soll), gemeinsam mit ihm endlich gesellschaftlichen Zwängen entflieht und in nonkonformistischen Denkerkreisen verkehrt, bevor die Geburt des Romans Frankenstein ihrem Leben einen Sinn verleiht – auch wenn ihr Name fortan für immer im Schatten dieser Schöpfung stehen wird.
„Meine Träume gehören nur mir, und ich habe nie jemandem dafür die Schuld gegeben!“
Auch visuell zieht sich ihr Schicksal, dieses Werk zu kreieren, als wortwörtlicher roter Faden durch das Geschehen: Dieser nimmt unterschiedlichste Formen an (mal Kreuz, mal Blitz, mal Blutstropfen); er ist immer da, mal komplex verzweigt und verästelt, mal verborgen, mal voller Leidenschaft, mal voller Gefahr, ist der Funke der Ideen, die in Frankenstein einfließen werden, und zugleich wie der glühende Funke, der im Roman selbst der Kreatur das Leben einhaucht. Dieses Element verleiht der visuellen Präsentation eine lebhafte, (alb-)traumhafte Note. Ansonsten sind die unruhigen Illustrationen in Schwarz-Weiß gehalten (wobei die schwarzen Flächen klar überwiegen). Das Design ist insgesamt eher krude und simpel – ganz klar eine bewusste, künstlerische Entscheidung. Und doch können die zeichnerischen Variationen, in welchen Marys Wirklichkeit und die Welt ihrer Träume ineinanderfließen, nicht immer darüber hinwegtäuschen, dass die visuellen Informationen manchmal verwirren und Distanz zur Geschichte schaffen, anstatt einen hineinzuziehen.
Die Lebensgeschichte der Mary Shelley findet hauptsächlich zwischen den Panels statt, in kurzen Erzählsequenzen, die oftmals nur wenige Zeilen umfassen und in der Du-Form geschrieben ist, sich also als direkte Anrede an die zentrale Figur richtet (tatsächlich findet man auch heraus, wer da spricht; ein netter Twist, auf den das Cover einen versteckten Hinweis bereithält). Diese Formulierungen, mal philosophisch-ausschweifend, mal einfühlsam-intim, vermitteln das Geschehen auf besondere, äußerst originelle Art und Weise. Leider nimmt die Graphic Novel an einem Kernpunkt ein viel zu frühes Ende – hier hätte man gerne noch weiter in Mary Shelleys Leben eintauchen dürfen.
Fazit:
Eine interessante Biographie in Graphic-Novel-Form über das bewegte Leben einer Autorin, die für immer nur noch für eines bekannt sein wird und doch so viel mehr erlebte. Die Optik ist künstlerisch anspruchsvoll, aber gewöhnungsbedürftig, und die Story wird auf einzigartige Weise erzählt, fordert einem aber auch einiges ab und ist etwas kurz geraten. Trotz der kleinen Mängel ist Mary Shelley für Interessierte aber ein auf jeden Fall empfehlenswerter Comic!
Alessandro Di Virgilio, Manuela Santoni, Knesebeck
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