Die Mädels von der Baker Street
Scharfsinnig
Mitten im viktorianischen London leben die Schwestern Emmeline und Miranda Finch. Genauer gesagt, in der Baker Street. Klingelt da was? Richtig, ein Detektiv von Weltruhm ist dort ebenfalls ansässig. Und zwar in der unmittelbaren Nachbarschaft, denn Emmeline und Miranda leben mit ihrer Mutter in der Baker Street 221A. Die zwölfjährige Emmeline schaute sich einiges bei ihrem berühmten Vorbild ab und ist so trotz ihres jungen Alters bereits eine Spürnase, die selbst die Londoner Polizei locker in den Sack steckt. Gemeinsam mit ihrer achtjährigen Schwester Miranda, die ihrerseits ein wandelndes Lexikon ist, löst das abgebrühteste Geschwister/Ermittler-Duo seit Simon & Simon auch die kniffligsten Fälle, um die Baker Street sauber und frei von schurkischem Abschaum zu halten.
Gleich ihr erster Fall lässt Emmeline und Miranda auf eine Sagengestalt treffen, die ihre Ursprünge im deutschen Rheinland hat: den kopflosen Reiter. Dieser Wiedergänger erlangte noch größere Bekanntheit durch die Tim Burton-Verfilmung „Sleepy Hollow“ mit Johnny Depp, angelehnt an die Novelle von Washington Irving von 1809. Doch davon können die Mädels sich auch nichts kaufen, als der Kopflose des Nachts auf sie zu galoppiert, als sie sich gerade mit einem Reporter unterhalten. Dieser recherchiert nämlich gerade für einen Artikel über die Baker Street, was ihn schnell auf die Spur der beiden minderjährigen Schnüfflerinnen brachte. Ziel des Reiters sind aber nicht etwa die Finch-Schwestern. Auf den Reporter Vincent Ross hat es der axtschwingende Dämon abgesehen! Anscheinend hat der Schreiber etwas Journalistisches verbrochen, wofür er büßen soll (was mir erschreckend bekannt vorkommt… und ich deswegen mit meinem Kopflosen mittlerweile per Du bin). Emmeline und Miranda zögern nicht lange und nehmen sich des mysteriösen Falles an.
Direkt im Anschluss kümmern die Mädchen sich in einer Seitenstraße um eine bis zur Oberkante Unterlippe abgefüllte Dirne, die dringend ihre Medizin benötigt, um ihrem (horizontalen) Gewerbe weiter nachgehen zu können. Ganze 50 Pence fehlen ihr dafür. Emmeline und Miranda würden gerne aushelfen, aber… woher nehmen und nicht stehlen? 50 Pence sind im ausgehenden 19. Jahrhundert kein kleiner Kleckerbetrag. Erst recht nicht für zwei Mädchen ohne eigenes Einkommen. Gerade noch darüber grübelnd, wie sie der Nutte… Verzeihung, der Hure aus der Patsche helfen könnten, werden sie durch ein klirrendes Geräusch aufgeschreckt. Gefolgt von einem dumpfen Aufprall. Aus dem Haus gegenüber stürzte eine Frau aus dem Fenster und landete tödlich auf dem harten Asphalt. Ein tragischer Unfall? Mitnichten! Emmeline sah einen Mann am Fenster, unmittelbar nachdem die arme Frau schreiend ins Verderben fiel. Die Londoner Metropolitan Police geht von einem Unfall aus, doch Emmeline bringt den ermittelnden Inspector auf den aktuellsten Stand. Just in dem Moment, als der Liebhaber der Toten an den Unglücksort geeilt kommt. Der Mann, den Emmeline am Fenster sah… doch noch fehlen die Beweise für dessen vermeintliche Tat.
Als sich die Jung-Detektivinnen eines Nachts mit den Jungs von der Baker Street auf dem örtlichen Friedhof rumtreiben, werden sie Zeugen eines eher ungewöhnlichen Treibens. Da hockt ein Mann in einem Grab und buddelt munter eine Leiche aus! Auf sein Tun angesprochen, stellt sich der Fremde als Bentley Shingleton vor, Vampirjäger. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, von einem Vampir gebissene Opfer an ihrer Wiederauferstehung zu hindern, indem er ihnen altbekannt einen Pflock durchs nicht mehr schlagende Herz treibt. Zuerst skeptisch, glauben die Finch-Mädchen den Ausführungen von Mr. Shingleton schon bald, da die ausgegrabene Verstorbene keinen Tropfen Blut mehr in den Adern zu haben scheint. Laut Shingleton scheint der Vampir ein besonderes Interesse an seiner Person zu haben, da nur Leute unter dessen Opfern sind, die dem selbsternannten Jäger irgendwie nahestehen. Zeit für die unerschrockenen Baker Street-Mädels, dem Spuk ein Ende zu bereiten!
In ihrem vorerst letzten Fall müssen die Schwestern sich einer Entführer-Bande entgegenstellen. Da ihre alleinerziehende Mutter nachts meist in der Fabrik arbeitet, sind Emmeline und Miranda auf sich allein gestellt, als der Ganoven-Trupp sie im eigenen Heim angreift. Mit so viel Gegenwehr hätten die Entführer wohl nicht gerechnet und können so von der herbeigerufenen Polizei weitestgehend dingfest gemacht werden. Damit ist der Fall aber noch nicht abgeschlossen, denn Miranda findet einen Zettel auf dem Boden, der einem der Angreifer aus der Tasche gefallen sein muss. Auf ihm befinden sich Namen, einige davon bereits durchgestrichen, und auch Emmeline und Miranda sind darauf vertreten. Hier scheint es sich um Kindesentführung im großen Stil zu handeln und der detektivische Spürsinn ist geweckt. Die Schwestern zögern nicht lange und nehmen die Ermittlungen auf… was sie in den Untergrund führt. In die Kanalisation Londons.
Expandierend
Comic-Kenner dürften die Finch-Schwestern bereits kennen, stammen sie doch aus den gefeierten und erfolgreichen „Malcolm Max“-Alben, die beim Bielefelder Splitter Verlag erscheinen. Getextet von Autor Peter Mennigen und grandios gezeichnet von Ingo Römling, erfreuen die Steampunk-Noir-Krimis - mit übernatürlichem Einschlag - sich großer Beliebtheit und werden mittlerweile auch im Ausland veröffentlicht. Erst 2019 erschien der langerwartete vierte Band mit dem vielversprechenden Titel „Blutrausch“.
Bevor der namensgebende Dämonenjäger die Comic-Welt unsicher machte, ermittelte er noch in einem anderen Medium. 2008 erschienen im mittlerweile geschlossenen Tigerpress Verlag zwei Hörspiele, die unter dem Banner „Gespenster Geschichten“ liefen und Nachdrucken der klassischen Comics beigelegt wurde. Diese populäre Comic-Reihe betreute Peter Mennigen bereits ab 1977 für Bastei als Autor, neben zahlreichen anderen Serien wie „Spuk Geschichten“, „Conny“, „Biggi“, „Phantom“ oder „Axel F.“. Der Verlag Romantruhe führt die „Malcolm Max“-Abenteuer, die zeitlich vor den Geschehnissen der seit 2013 erscheinenden Comics spielen, seit 2011 unter der Überschrift „Geister-Schocker“ fort.
Emmeline und Miranda Finch, die nach dem Tod ihres Vaters mit ihrer Mutter in ärmsten Verhältnissen lebten, wurden von Dämonenjäger Malcolm Max aus der Armut geholt. Der verunglückte Vater gehörte zu Max‘ Spitzel-Netzwerk, weswegen er sich verantwortlich für die verarmte Familie fühlte. Vor allem, da die Mädchen schwer erkrankt waren und das Geld für den Arzt fehlte. Er war es auch, der den Umzug in die Baker Street ermöglichte, wo Emmeline und Miranda vom Besten lernten und nun eigenmächtig ihr detektivisches Geschick unter Beweis stellen… und in die Fußstapfen des legendären, englischen Meisterdetektivs treten.
Vielseitig
Für den ersten Solo-Auftritt des charmanten Geschwister-Gespanns holte sich Autor Peter Mennigen tatkräftige Unterstützung an die Seite. Der vielseitig begabte „Malcolm Max“-Zeichner Ingo Römling, der unter anderem auch für die Comic-Reihe „Die Toten“ verantwortlich ist, für die beiden „Star Wars“-Serien „Rebels“ und „Resistance“ zeichnet, Plattencover für ASP, Faun, Samsas Traum oder Umbra et Imago entwarf und selbst ebenfalls musikalisch tätig ist, steuerte künstlerisch die eröffnende Geschichte „Der kopflose Reiter“ bei. Damit bewegt Römling sich auf gewohnt hohem Niveau und punktet mit stimmungsvoller Beleuchtung und flüssigem Strich, was das ganze Geschehen besonders schwungvoll und detailliert erscheinen lässt.
Die Geschichte „Die Leichenkammer“ wurde von Regina Haselhorst aufs Papier gebracht. Die „Mädchencomic“-Macherin, die ebenfalls als Autorin tätig ist, fiel den Künstlern hinter „Malcolm Max“ auf, als sie ein Fanart der Reihe von ihr in die Finger bekamen. Und schon war sie Teil dieses Spin-off-Projekts, das sie in jedem Fall bereichert. Ihre kurvigen Zeichnungen wirken frisch und angemessen, während sie mit freundlichen Farben das viktorianisch-graue London belebend aufhellt.
Im Gegensatz zum Artwork von Regina Haselhorst, nähern sich die Illustrationen ihrer Kollegin Roberta Ingranata in „Der Vampir“ wieder denen von Ingo Römling an. Dabei imitiert die italienische Künstlerin ihren deutschen Zeichner-Kollegen jedoch nicht, sondern hat ihren ganz eigenen Stil, der etwas weniger cartoonig und Zeichentrick-lastig daherkommt und dafür etwas kantiger wirkt. Die größtenteils düstere - der Handlung aber angemessene - Kolorierung stammt von Vivian Mittag. Roberta Ingranata ist zudem Zeichnerin mehrerer Zenescope-Reihen, darunter auch „Robyn Hood“ und die beliebten „Grimm Fairy Tales“. Für die Image-Serie „Witchblade“ ist sie ebenso tätig, wie für „Doctor WHO“ von Titan ComicsUK und unterschiedliche Cover-Illustrationen für weitere internationale Verlage.
Mein optisches Highlight ist die letzte Erzählung des Bandes. „Die Entführung“, von der freiberuflichen Hamburger-Illustratorin Simone Grünewald, ist perfekt durchgestylt und ich jedem Panel eine wahre Freude. Aufwendig und farbenfroh koloriert, lebt die finale Geschichte durch hohe Dynamik und atmosphärische Lichteffekte. Simone Grünewald arbeitete zuvor als Graphic Artist an der gefeierten Adventure-Game-Reihe „Deponia“ von Daedalic Entertainment, was man ihrem gelungenen Character-Design auch ansieht.
Kombiniere:
Vier abwechslungsreiche Kurzgeschichten, vier unterschiedliche Stile und zwei sympathische Protagonistinnen, die mit einer Menge Wortwitz (und gehobener Aussprache) Londons Unterwelt den Kampf ansagen. Mit Mut, Herz und einer angemessenen Portion Mystery, sorgen Peter Mennigen und ein talentiertes Zeichner-Team für rasanten Krimi-Spaß für alle Altersklassen.
Peter Mennigen, Ingo Römling, Regina Haselhorst, Simone Grünewald, Roberta Ingranata, Splitter
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