Wer zeichnet wen?
Ketten und ihre Glieder
Mein erster Berührungspunkt mit Alexandre Clérisse war 2020, als ich den von ihm gezeichneten Comic „Ein Jahr ohne Cthulhu“ (CARLSEN) las und auch hier besprach. Das von Thierry Smolderen geschriebene Werk ließ mich nach Beendigung und selbst nach Fertigstellung der Rezension nicht los. Die verschachtelte Story und die experimentell-moderne Videospiel-Ästhetik faszinierten mich gleichermaßen. Es war nicht die erste Zusammenarbeit von Smolderen und Clérisse, allerdings herrscht bei den zuvor erschienen Kollaborationen „Das Imperium des Atoms“ und „Ein diabolischer Sommer“ (ebenfalls CARLSEN) noch Nachholbedarf meinerseits. Gut, dass diese Arbeiten nun wieder auf meinem Radar sind, da Alexandre Clérisse sie mit seinem neuen Solo-Comic „Lose Blätter“ gleich wieder interessant gemacht hat. Dieser Umstand und der Inhalt des Buches weisen fast schon gespenstische Parallelen auf. Ohne „Lose Blätter“ hätte es bei dem Namen Alexandre Clérisse nicht wieder Klick gemacht, ergo wären seine früheren Arbeiten weiter aus meinem Blickfeld geblieben. Ähnlich setzt sich eine Erzählkette in „Lose Blätter“ aus einzelnen Gliedern zusammen… ihr werdet gleich verstehen, was ich damit meine. Versprochen.
Diesmal stammt die Story vom Künstler selbst und er bohrt da gleich mal ein dickes Brett. Er erzählt Handlungen auf drei Zeitebenen, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Damit erfindet er das Rad nicht neu, es ist aber die Art und Weise, wie die verschiedenen Räder ineinandergreifen. Hier werden nicht notdürftig Bögen geschlagen, um die Ereignisse irgendwie miteinander zu verknüpfen. Besser gesagt, es kann keine Ebene ohne die andere existieren. Wir befinden uns in einem Kreislauf, dessen Anfang und Ende man nur schwer definieren kann. Eine nahtlose Kette von Ereignissen. Und wir starten mittendrin. Mitten in den guten alten 90ern.
Max…
…möchte nichts lieber als Comiczeichner werden. Der zwölfjährige Junge verbringt jede freie Minute mit seinen Zeichnungen, nutzt selbst die Ferien, um in die von ihm erdachten Welten einzutauchen. Handlungsort seines Comics soll das Mittelalter sein. Eine Epoche, über die er allerdings noch Einiges zu lernen hat. Hilfreiche Tipps bekommt Max von einem neuen Nachbarn, der gerade erst in die ländliche Gegend gezogen ist. Ein kauziger Typ, der überraschend viel über die Neunte Kunst zu wissen scheint. Als Max seinen Vater, ein Dachdecker, auf eine seiner Baustellen begleitet, um überhaupt mal etwas frischen Wind um die Nese zu bekommen, findet er auf dem alten Dachboden versteckte Metallteile. Drucklettern, wie sein Vater vermutet. Für Max eine willkommene Inspirationsquelle, stürzt er sich doch gleich in die Arbeit an einer mittelalterlichen Geschichte über einen Kopistenmönch.
Raoul…
…fristet sein Dasein in der Abgeschiedenheit eines Klosters. Auch er erdenkt sich Geschichten und zeichnet sie auf. Bruder Raoul träumt von einer fantastischen Zukunft, Technologie und Wissenschaft von übermorgen, was seiner Fantasie Flügel verleiht. Auf dem örtlichen Markt läuft er einem Mann über den Weg, der Flugblätter verteilt. Nicht mit irgendwelchen Schriften, denn die Blätter sind allesamt identisch. Seite für Seite in perfekten Lettern. Zauberei? In den Augen des Bischofs vor allem Ketzerei! Sogleich wird der unglückliche Verteiler von den Wachen festgenommen. Da eine Strafe in Zeiten der Inquisition nicht einfach „abgesessen“ werden kann, ist das Urteil schnell gefällt. Bruder Raoul ist auserkoren, der armen Seele die letzte Beichte abzunehmen. Und der Gefangene hat eine Menge zu erzählen. Er vertraut dem Kopistenmönch das Geheimnis des Buchdrucks an. Ebenfalls, dass für das Erstellen perfekter Kopien ein Goldschmied nötig sei und er die Lage der Werkstatt in dem Gedicht auf dem Flugblatt finden könne. Frédéric, der Sohn des Henkers, der nicht vorhat, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, bekommt ebenfalls Wind von diesem wissenschaftlichen Phänomen. Als gelernter Goldschmied ist seine Neugier geweckt. Auch er liest zwischen den Zeilen und trifft in der aufgespürten Druckerei auf Raoul, dem die Worte des Mannes, dessen Leben noch immer am seidenen Faden hängt, nicht aus dem Kopf gingen. Unter höchster Geheimhaltung tut sich das ungleiche Gespann zusammen, um Raouls Illustrationen einer utopischen Zukunft auf Papier zu bannen. Wieder und wieder, damit das Volk in Staunen gerät. Sie drehen sich um…
Suzie
Diese lebt in der Zukunft. In den 2070ern, um genau zu sein. Sie zeichnet Comics und führt das künstlerische Erbe ihres Vaters fort, der den Stift mittlerweile an den Nagel gehängt hat. Gemeinsam mit ihrem Bruder Léon verwaltet sie das Vermögen, das die Kunst ihrer Familie einbrachte, und erspinnt stetig neue Geschichten aus dem Universum ihres Vaters. Denn das Publikum verlangt Nachschub. Suzies Künstlerseele ist damit aber schon seit längerer Zeit nicht mehr glücklich, sieht sie sich doch selbst in einer schöpferischen Sackgasse. Obwohl ihr Vater es ihr vielleicht übelnehmen könnte und auch Léon mit ihrer Entscheidung nicht ganz einverstanden ist, zieht Suzie für sich einen Schlussstrich. Eine neue Idee muss her. Etwas, das in ihr wieder die Lust am Zeichnen weckt. Sie setzt sich an ihren Tisch, greift zum Stift und zeichnet die Geschichte eines Jungen in den 90ern, der Inspiration für seinen eigenen Comic sucht. Die Geschichte ihres Vaters… Max.
Wenn Welten kollidieren
Wie man hier schon lesen kann, prallen in „Lose Blätter“ Welten… bzw. Zeiten aufeinander. Ein komplexer Kreislauf, der so richtig wild und abgedreht wird, wenn diese Ereignisse plötzlich ineinandergreifen und die Wände zu bröckeln beginnen. Eine Kollision zwischen Zeit und Raum, dem Hier und Dort, Vergangenheit und Zukunft. Das lässt die grauen Zellen ordentlich rotieren, macht aber unglaublich viel Spaß. Clérisse verdreht einem das Hirn, versprüht zugleich aber unglaubliche Kreativität. Das merkt man auch den pastellfarbenen Zeichnungen an. Kaum ein Seitenlayout gleicht dem anderen, da hier aufwändig mit Panelstrukturen experimentiert wird. Clérisse spielt mit Farben und Formen, bricht die wunderbar eingebrachte Architektur regelrecht auf. Das wirkt erfrischend und modern, obwohl jede dargestellte Ebene ihre ganz eigenen kleinen Eigenheiten besitzt.
Fazit:
Ein beeindruckender Band mit zahlreichen kreativen Einfällen, den ich Comic-Neulingen nur bedingt als Einstieg empfehlen würde. Für erfahrenere Leser eine regelrechte Wundertüte mit komplexer Handlung… und gleichzeitig eine Liebeserklärung an das Geschichtenerzählen.
Alexandre Clérisse, Alexandre Clérisse, Carlsen
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