Götter unter sich
Unterm Stein gelebt?
Man kann seine Augen nicht überall haben. Selbst für Comic-erprobte Vielleser gibt es noch immer Überraschendes zu entdecken, obwohl die halbe Welt schon voll im Bilde ist. Passierte mir nicht zum ersten und garantiert nicht zum letzten Mal. Nun mag es vielleicht daran liegen, dass ich physische Werke bevorzuge und deshalb nur sporadisch auf die rein digitalen Veröffentlichungen schiele. Keine Entschuldigung, doch „Lore Olympus“ fiel mir dann zum ersten Mal ins Auge, als es als überaus stylish designtes Hardcover auf dem Tresen des Händlers meines Vertrauens stand. Die poppigen Variationen aus Pink und Blau und die verschnörkelt weiße Spotlack-Schrift waren ein regelrechter Eyecatcher und ich musste einen genaueren Blick riskieren. Meine Alarmglocken bimmelten im Kitsch-Takt, doch die Neugier war größer. Die ersten fünf Sätze auf der Rückseite des massiven Buches machten es nicht besser, denn selten knallte mir mehr Romantasy-Schmalz um die Ohren, als in diesem kurzen Textblock. Dennoch, die Neugier war noch immer da. Und holy fuck, was bin ich froh, dass so etwas wie treffsichere Intuition auch bei Kerlen in ihren Vierzigern voll ins Schwarze treffen kann… stellt euch meine Überraschung vor. Ohne gleich tief in die Geschichte einzutauchen, war es vor allem der markante Artstyle mit hohem Wiedererkennungswert, der mir eintrommelte, dass ich dieses Buch unbedingt lesen wollte und musste! Entgegen vielen anderen Entscheidungen, erwies sich diese als goldrichtig. Gleich noch eine Freifahrt auf dem neu entdeckten Intuitions-Karussell. Der Stolz aufs goldene Händchen verpuffte freilich etwas, nachdem ich erfuhr, wie GROSS „Lore Olympus“ während meiner Rückwärtsfahrt auf der Achterbahn der Ahnungslosen bereits war…
Das Debüt der neuseeländischen Künstlerin Rachel Smythe startete in wöchentlichem Rhythmus auf der Webcomic-Plattform WEBTOON und eroberte innerhalb kürzester Zeit deren Thron im Sturm. „Lore Olympus“ wurde zum dort meistgelesenen Comic und stürmte die Bestsellerlisten. Nicht nur das, denn international konnten renommierte Auszeichnungen eingeheimst werden, was die Popularität nur noch mal befeuerte. Aktuell folgen dem noch immer erscheinenden Webcomic rund 6,2 Millionen Nutzer. Auch wenn ich etwas spät zur Show gekommen bin, kann ich nur ins gleiche Horn wie die treue Leserschaft blasen. Doch worin liegt die Faszination dieser göttlich-schnulzigen Tragödie?
Götter wie du und ich…
Zuerst muss gesagt werden, dass es um Göttinnen und Götter geht. Ausschließlich. Zur staubtrockenen Geschichtsstunde gerät „Lore Olympus“ aber nie, denn die griechische Mythologie bekommt durch Rachel Smythe einen durch und durch modernen Anstrich, was sich in der Story selbst und im Artwork zeigt.
Persephone, die Göttin des Frühlings, der Blumen und der Jugend, wuchs wohlbehütet von ihrer Mutter Demeter unter den Menschen auf. Demeter wollte ihr unschuldiges Wesen möglichst lange und weit entfernt vom sündigen Olympus wissen, wo die anderen Göttinnen und Götter ihrem dekadenten Lebensstil frönen. Doch irgendwann ist einmal die Zeit gekommen, wo jedes Vögelchen das Nest verlässt und so lebt die charmant-naive Persephone nach Erhalt eines Stipendiums fortan unter ihresgleichen. Als ihre Mitbewohnerin Artemis sie widerwillig mit auf eine Party schleift, erregt das bildschöne Mädchen sofort Aufmerksamkeit. Hades, der Gott der Unterwelt und Bruder des Zeus, ist sofort fasziniert und möchte mehr über die ihm noch unbekannte Schönheit wissen. Als er beiläufig erwähnt, dass ihr Antlitz selbst das von Aphrodite in den Schatten stellt und diese die kränkende Bemerkung mitkriegt, wird Persephone ungewollt zum Spielball der Mächtigen. Mit Hilfe ihres Sohnes Eros betäubt Aphrodite das unschuldige Mädchen und verfrachtet es in den Wagen von Hades. Dieser erweist sich jedoch als Gentleman und bietet der ausgeknockten Persephone ein sicheres Domizil für die Nacht. Nachdem am nächsten Morgen die Geschehnisse des Partyabends rekapituliert werden, lässt sich nicht abstreiten, dass zwischen Persephone und Hades reichlich Funken fliegen. Der missverstandene König der Unterwelt hadert jedoch mit seinen Gefühlen… zumindest noch.
Game of Gods
Machtspiele, verbotene Liebe und zwieträchtige Intrigen kennen wir nicht nur aus den Werken von George R. R. Martin, sie sind seit jeher Bestandteil Literatur sämtlicher Formen und Farben. Weitreichende Verwicklungen machen da natürlich auch vor der Götterwelt nicht halt. Auf die mythologische Welt wird in „Lore Olympus“ an allen Ecken und Enden Bezug genommen. Hauptsächlich natürlich auf die Erzählung über Persephone und Hades, aber als sehr interessante Randnotizen tauchen auch der Mythos von Eros und Psyche oder gar die Nymphe Minthe auf, mit der Hades ein lockeres Techtelmechtel pflegt. Rachel Smythe hat diesbezüglich ihre Hausaufgaben gemacht und ich bin gespannt, wie hoch die Wellen in den weiteren Bänden noch schlagen werden. Konfliktpotential gibt es nämlich an jeder Ecke. Wir können uns sicher sein, dass noch einige Hürden auf das scheinbar ungleiche Paar warten, denn der Webcomic umfasst aktuell 235 Kapitel. Das erste Hardcover aus dem LYX Verlag enthält die Kapitel 1 bis 25. Zeichen- und schreibfaul ist Frau Smythe also schonmal nicht…
Stilistisch bin ich von dem poppig-grellen Look sehr angetan. Der Kontrast zwischen den Hauptfiguren wird durch die markante Einfärbung sehr gut dargestellt. Die Figuren zeigen hin und wieder leichte Manga-Einflüsse, erinnern in ihrem Aussehen aber hauptsächlich an modernere Zeichentrickfilme aus der Disney-Schmiede, als es dort noch analog zuging. Da denke ich zuerst an „Hercules“ aus dem Jahr 1997, auch wenn dieser auf eine breitere Farbpalette zurückgriff. Da ich den Look persönlich extrem erfrischend finde, hätte ich gerne noch ein Pünktchen draufgeschlagen, jedoch macht ein kleines Manko dem guten Willen einen Strich durch die Rechnung. Die gedruckte Variante ist derart farbintensiv, dass die Bilder sehr dunkel erscheinen. Manches Detail wird regelrecht verschluckt und geht in tiefem Schwarz einfach unter.
Zu Beginn gibt es übrigens eine Trigger-Warnung, die auf „sensible“ Inhalte aufmerksam macht. Meiner Meinung nach, ein unnötiger Trend, der zudem massive Spoiler beinhalten kann. Möchte ich vorweggenommen bekommen, in welche Richtung sich eine Story dreht, bevor ich auch nur die erste Seite gelesen habe? Nein! Selbst bei Filmen und Romanen gehört dies immer mehr zum Standard. Wir reden hier nicht von blutrünstigem Splatter oder hammerharten psychischen Martyrien, und da sollte man vielleicht mal die Kirche im Dorf bzw. das scheinbar nicht mehr vorhandene Fell wieder ein wenig nachwachsen lassen. Die Realität zieht auch keine Samthandschuhe an, wenn sie uns einen Knüppel zwischen die Beine wirft. That’s life… und keine Heile-Welt-Utopie.
Fazit:
Für mich ist „Lore Olympus“ ein überraschendes Highlight, welches nur durch einen glücklichen Zufall auf meinem Radar auftauchte. Eine überaus kreative Umsetzung und die wendungsreiche Story sorgen für spannende Unterhaltung mit knisternder Romantik im modernen Anstrich. Herzlich, charmant und intrigant, dass sich die göttlichen Balken biegen.
Rachel Smythe, Rachel Smythe, LYX
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