Durchs wilde Kurdistan
Kein Spaziergang
Der italienische Comic-Zeichner und Blogger Michele Rech, der in seinem Heimatland eher unter dem Künstlernamen Zerocalcare bekannt ist, wagte sich für sein Reisetagebuch an einen Ort, den die meisten von uns nicht mal für Geld besuchen würden und der uns nur aus sicherer Distanz durch TV-Reportagen oder den Nachrichten ein Begriff ist. Für seine Recherchen schloss sich Zerocalcare im Herbst 2014 einer linksautonomen Gruppe an, um ins türkisch-irakisch-syrische Grenzgebiet zu reisen. Dort unterstützte er die Aktivisten und war nur einen Steinwurf vom heftig umkämpften Kobane entfernt, das der „Islamische Staat“ (IS) hartnäckig versuchte einzunehmen und das von den Kurden eisern verteidigt wurde.
Bereits ein Jahr später führte ihn sein Weg erneut in diese Gegend. Diesmal allerdings nicht als Beobachter aus sicherer Entfernung auf der türkischen Seite, sondern direkt ins Herz von Rojava, der autonomen Region, die sich selbst verwaltet und in der die Gleichstellung der Geschlechter, Religionsfreiheit und die Abschaffung der Todesstrafe zentrale Rolle spielen und Teil des Gesellschaftsvertrages sind. Kobane gilt seit Februar 2015 als befreit, wurde jedoch schwer zerstört.
Tanz auf der Rasierklinge
Zerocalcares Haltung ist klar und er macht auch keinen Hehl daraus. Er sympathisiert mit dem kurdischen Volk, bezieht Stellung und nennt Dinge beim Namen, was ihm die Einreise in so manche Regionen in Zukunft erschweren dürfte. Bei seiner zweiten Reise trifft der Künstler Kämpferinnen der Volksverteidigungseinheiten YPG/YPJ und schafft es sogar in den Kandil-Bergen mit Ceval Bayik zu sprechen, der seit der Verhaftung Abdullah Öcalans, im Jahr 1999, die Nr.1 der PKK ist. Die kurdische Arbeiterpartei wird, unter anderem von Deutschland, als terroristische Vereinigung eingestuft.
Zerocalcare nimmt den Leser mit auf einen waghalsigen Trip, bei dem schlaflose Nächte, in denen Schüsse und Detonationen des bedrohlich nahen IS die Augen starr an die Decke blicken lassen und bei dem sich die Lage sekündlich verändern kann und beschreibt anschaulich den Widerstand der Kurden und die Grausamkeiten, die vom Islamischen Staat ausgehen, ohne dabei zu sehr ins graphische Detail zu gehen.
Überhaupt geraten die Aufzeichnungen von Zerocalcare unterhaltsamer, als man bei so einem brisanten Thema annehmen könnte. Die teils extrem angespannte Atmosphäre wird immer wieder durch sarkastische Anekdoten, Vergleiche oder auch ausschweifende Erklärungen aufgelockert. Auch haarsträubende Situationen jenseits der Legalität werden genauestens beschrieben. Wenn man bei der Einreise von einem türkischen Zollbeamten gefilzt wird und, unter Androhung von Haft, geradezu zu einer Unterschrift auf einem Dokument genötigt wird, von dem man nicht ein einziges Wort versteht, lässt das schon tief blicken. Dass die konfiszierten Gegenstände dann für den Eigenbedarf zweckentfremdet werden, setzt der abstrusen Situation noch die Krone auf. Angesichts der spürbaren Grausamkeit des Kriegsgeschehens geraten solche verschmerzbaren Verluste aber zu belanglosen Randnotizen.
Auf der anderen Seite gibt es immer wieder humorvolle Seitenhiebe auf das sonderbare Frühstücksverhalten der Gastgeber und deren scheinbar seltsame Vorliebe für Linsensuppe am frühen Morgen. Auch wenn Zerocalcare Vergleiche mit bekannten Manga- oder Zeichentrick-Figuren anstellt, sorgt dies für amüsiertes Grinsen… oder aber es bleibt einem beim Vergleich von IS-Kämpfern mit „Fist of the North Star“-Schergen das Lachen im Halse stecken. Ernste und angenehm entspannte Momente halten sich hier also die Waage und lassen den Leser anhand der realen und brutalen Grausamkeit des Krieges nicht komplett allein… im Dauerbeschuss des IS.
Der Filzstift ist mächtiger als das Schwert
Der Zeichenstil von „Kobane Calling“ hat mich bereits beim Blick auf das Cover des Buches überrascht, denn Zerocalcare bedient sich hier einer cartoonhaften Inszenierung, die sich auf den ersten Blick, angesichts des schwierigen Themas, schwer mit dem geschilderten Inhalt zu beißen scheint. Doch bereits nach wenigen Seiten zeigte der Autor, dass dies der optimale Weg ist, seine Geschichte zu erzählen. Genau, denn es ist SEINE Geschichte… und wenn man merkt, mit welcher Leichtigkeit und welchem sarkastischen Unterton er diese an den Leser heranträgt, kann man nur den Hut ziehen und alle unbegründeten Zweifel beiseiteschieben. Bewusst überzeichnet und mit passendem, schwungvollem Strich verpasst Zerocalcare sich und all seinen liebevoll gestalteten Figuren ein unverwechselbares Auftreten. Er erklärt und verdeutlicht Situationen auf spielerische Art und Weise und reißt den Leser nicht allzu lange aus dem Geschehen, obwohl er viele nötige Informationen beisteuert. Bild-in-Bild-Szenen, die in der unteren Bild-Ecke den Panik-Level des Zeichners, anhand bestimmter Situationen, verdeutlichen oder Was-wäre-wenn-Panels mit bissigem, schwarzen Humor, lockern die Stimmung ungemein auf und sorgen für laute Lacher, während in wenigen hundert Metern die Bombeneinschläge des IS hörbar scheinen.
Die zahlreichen Anekdoten aus seiner italienischen Heimat werden anhand von Fußnoten auch ausreichend erklärt und zeigen, wie sehr Zerocalcare dem römischen Stadtteil Rebibbia verbunden ist, in dem er seit seiner Kindheit lebt. Dem Ort, der vor allem durch sein großes Gefängnis und den Mammutfunden in den 80er Jahren bekannt ist. Ein solches Mammut taucht auch in „Kobane Calling“ immer wieder als imaginärer Gesprächspartner des 34-jährigen Italieners auf und sorgt so für amüsante Diskussionen mit dem Künstler.
Kein Handgepäck
Der Berliner Avant-Verlag veröffentlichte das 272 Seiten starke Werk im Mai 2017 und bescherte Michele Rech, alias Zerocalcare, damit sein Deutschland-Debüt. Das massive Hardcover-Buch wirkt sehr hochwertig und bereits das farbige, kräftig gedruckte Front-Motiv fällt ins Auge. Die flüssigen schwarz/weiß-Zeichnungen, übergehend in Graustufen, kommen auf dem dicken Papier gut zur Geltung und werden dem textlastigen Mammutwerk jederzeit gerecht. Verpackung und Inhalt bewegen sich auf sehr hohem Niveau.
Fazit:
Ob man Zerocalcares Haltung folgen mag oder nicht, sei jedem selbst überlassen. Hoch anrechnen muss man ihm in jedem Fall, dass er nicht die Augen verschließt und sich traut, Dinge auszusprechen… womit er sich bestimmt nicht nur Freunde gemacht hat. Zynische Kommentare treffen wie ein Holzhammer und liefern beeindruckende und schockierende Einblicke in ein Kriegsgeschehen, dessen Auswirkungen sich auch immer öfter auf unseren Straßen zeigen. Konflikte, die viele unserer Mitbürger persönlich betreffen und deren politische Diskussionen für regelmäßigen Zündstoff sorgen.
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