Auf der Schwelle zur Ewigkeit
Trigger-Warnung: Der Comic – und entsprechend auch die folgende Rezension – befasst sich mit dem Thema Suizid. Wer sensibel auf dieses Thema reagiert, sei an dieser Stelle vorgewarnt.
Entre dos tierras *
Catalina ist unglücklich. Unglücklich verliebt. Das ist sie schon seit langer Zeit, und zwar in ihren Sandkastenfreund Xisco. Dem hat sie ihre Liebe jedoch nie gebeichtet. Dazu ist sie zu verschlossen, regelrecht in sich gekehrt. Generell kann Cata nicht gut mit Menschen und reagiert abweisend, aus Angst. Angst davor, enttäuscht zu werden. Da sie keinen anderen Ausweg mehr sieht, beschließt sie, ihrem tristen und unglücklichen Leben ein Ende zu setzen. Unbemerkt von ihrer Mitbewohnerin, schneidet sich Catalina im Badezimmer die Pulsadern auf…
Diese Verzweiflungstat ruft Karmen auf den Plan. Ein Engel-ähnliches Wesen, welches den frisch Dahingeschiedenen den Übergang ins Jenseits erleichtern soll. Cata staunt nicht schlecht, als das überirdische Wesen in Gestalt einer jungen Frau plötzlich in ihrem Badezimmer auftaucht. Mit ihrem körperbetontem Skelett-Body und dem pinken Haar, welches ausschaut, als hätte Karmen ein verlängertes Wochenende mit einer Wagenladung Drei-Wetter-Taft in einem Windkanal verbracht, sieht die Fremde eher nach Halloween-Party als nach Chauffeur ins Jenseits aus. Noch mehr staunt Cata aber, als sie auf den aktuellen Stand der Dinge gebracht wird: Ihr Suizidversuch stellt sich als äußerst geglückt heraus. Nun befindet sie sich auf einer physischen Parallelebene, was sie noch nicht komplett von ihrem irdischen Dasein abkoppelt, sie jedoch zu einer Art Geist werden lässt. Für ihr Umfeld ist Cata unsichtbar, kann sich – nach ein wenig Übung – jedoch frei bewegen. Sogar Fliegen ist drin! Da ihre Zeit zwischen den Welten aber begrenzt ist, nimmt Karmen Catalina mit, um ihr auf ihre empathische (und manchmal gnadenlos ehrliche) Art zu zeigen, was sie da gerade leichtfertig weggeworfen hat… ein Leben voller Möglichkeiten und Überraschungen.
Empathische Note
Kein leichtes Thema. Ganz und gar nicht. Da muss man sich als Künstler erstmal rantrauen… und dann natürlich auch das passende Fingerspitzengefühl mitbringen, damit ein Werk, welches Suizid und den Tod generell zum Thema hat, nicht anstößig, missverständlich oder gar aufgesetzt wirkt. In all diese Fallen ist der spanische Autor und Zeichner Guillem March erfreulicherweise nicht getappt. Er spinnt inhaltlich ähnlich angelegte Werke wie Dickens‘ „Weihnachtsgeschichte“ oder auch Neil Gaimans Comic-Epos „Sandman“ auf eine geerdete Art und Weise weiter, indem er trotz der übernatürlichen Aspekte um die Wegbegleiter ins Jenseits eine greifbare Geschichte strickt. Catalinas Ängste und Sorgen sind real, ihre Probleme nachfühlbar. An einigen Stellen hatte ich einen spürbaren Kloß im Hals und fühlte mich, als hätte jemand meine Eingeweide verknotet. Schicksale, die nicht der Feder eines kreativen Fantasy-Autoren entsprungen sind, sondern so jeden Tag passieren. Augenblicke, die ganze Leben verändern. Da drückt March, der seit 2008 beim US-Riesen DC nicht nur Batman & Co. in unzähligen Panels und auf dutzenden Cover-Artworks seinen Stempel aufdrückt, verdammt treffsicher die richtigen Tasten. Man merkt auf jeder einzelnen Seite, dass „Karmen“ ein Herzensprojekt ist.
Nackt durch Palma
Viele werden das kennen… entweder aus diversen Berichterstattungen oder dem eigenen Mallorca-Urlaub. Der einheimische Künstler nimmt uns aber an die Hand, und zeigt uns seinen ganz eigenen Blick auf Palma. Quasi als Liebeserklärung an seine Heimat. Ausschweifend stellt March seine Liebe zur Architektur in imposanten Bildern dar. Dazu nutzt er interessante Perspektiven und gibt sich vielen liebevollen Details hin. Herausgekommen sind wundervoll verspielte Panoramabilder, die Fernweh erzeugen. Dass Marchs Hauptfigur Catalina dabei splitternackt durch Palmas Straßen irrt oder diese überfliegt, ist keinesfalls plakativ, sondern durchaus ästhetisch dargestellt. Anatomisch versiert, unterstreicht Guillem March so nur noch die Verletzlichkeit der Figur. Verstärkt wird dies durch die blass-sanfte Kolorierung, durch die Catalina wie eine zerbrechliche Porzellanpuppe erscheint.
Im Bonusteil öffnet March noch seine Skizzen-Galerie, in der es neben Vorzeichnungen auch fertig getuschte Panels im Großformat zu sehen gibt. Apropos Großformat: Nach der spanischen Original-Graphic Novel hat es „Karmen“ in die Staaten verschlagen. Der IMAGE Verlag schnappte sich Marchs Creator-owned Comic und brachte die Geschichte in Heft-Form über fünf Ausgaben heraus. Kurz nachdem ich die erste Ausgabe neugierig verschlungen hatte, kam glücklicherweise die Ankündigung, dass CROSS CULT sich den Stoff für den deutschsprachigen Markt gesichert hatte. Glücklicherweise deshalb, weil man „Karmen“ somit nicht nur (so wie es sein sollte) am Stück lesen kann, sondern wegen des deutlich größeren Formats. Der Verlag entschied sich für das Format 24x32cm, was nur zu begrüßen ist. Nur so können Marchs einladende Bilder ihre volle Wirkung entfalten und sind der US-Heft-Größe haushoch überlegen. Von der Papierqualität brauchen wir da gar nicht erst zu sprechen, denn die ist selbstverständlich ebenfalls auf einem ganz anderen Level.
Fazit:
Das erste Halbjahr 2022 hat bereits einige Comic-Highlights hervorgebracht… und „Karmen“ spielt ganz oben mit. Trotz des schweren Themas ist die Geschichte überraschend leicht erzählt. March beweist viel Einfühlungsvermögen und zieht seine Leserinnen und Leser nicht auf Teufel komm raus runter. „Karmen“ ist poetisch, humorvoll, an manchen Stellen niederschmetternd und dennoch unglaublich lebenbejahend. Ein Buch, das man selbst nach dem Zuklappen nicht weglegen und in seiner Nähe wissen möchte, während unweigerlich die Gedanken über das Gelesene rotieren.
* zwischen zwei Welten (Songtitel von „Héroes del Silencio“)
Guillem March, Guillem March, Cross Cult
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