Ein Blick auf den Lebensabend: live und in Farbe
Abschied vom Leben?
Nicht für Yvonne Lhermitte. Ein Abschied von ihrem alten Leben zwar, doch aufgegeben hat sich die 80-jährige Witwe noch nicht. Schweren Herzens blickt sie ein letztes Mal auf ihr trautes Heim, in dem sie so viele prägende Momente erlebt hat. Hochzeit, Schwangerschaften, Augenblicke purer Freude und Glück, aber auch Phasen der Trauer und Einsamkeit. Nun beginnt jedoch ein neuer Abschnitt, denn Yvonne hat ihr Haus verkauft und zieht in eine Einrichtung für Senioren.
Ihre schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten sich dort erst einmal. Klinisch steril, grau, trostlos… und der Geruch von alten Menschen. Dazu noch eine augenscheinlich überfreundliche Heimleitung, die den kompletten Alltag strukturiert und ausschließlich nach Plan durchprügelt. Der freundliche Pfleger Youssef hat jedoch stets ein offenes Ohr und erleichtert ihr die Eingewöhnung. Vor allem ist es aber Yvonnes neugierige und empfindsame Art, die sie schnell Kontakt zu ihren Mitbewohnern knüpfen lässt. Sie interessiert sich für die Menschen um sie herum, pfeift deshalb gerne auch mal auf Regeln. Dass dies bei der strengen Leiterin nicht unbedingt gut ankommt, prallt unbeeindruckt an ihr ab. Yvonne hat ein offenes Ohr und ein noch wachsameres Auge. Ihre Fröhlichkeit steckt an und bringt für ihr Umfeld eine gewisse Leichtigkeit in den grauen Heim-Alltag. Sie knüpft sogar zarte Bande zu dem charmanten Paul- François, der sehr angetan von der neuen Mitbewohnerin ist. Nein, für Körperlichkeit gibt es keine Altersgrenze… und auch nicht für Freiheitsdrang und Abenteuerlust.
Der Kopfsprung
So lautet übersetzt der Originaltitel „Le Plongeon“. Sowohl der französische als auch der deutsche Titel treffen den Kern der Geschichte sehr gut. Immerhin geht es um eine Situation, die nur schwer geprobt werden kann oder auf die man sich mental vorbereiten könnte. In Würde zu altern ist wohl der Wunsch eines jeden, ob sich dieser dann jedoch verwirklichen lässt, ist von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Ist man geistlich noch auf der Höhe, um aktiv am Leben teilzuhaben? Schränken körperliche Gebrechen ein? Ein nicht unerheblicher Punkt ist die Frage der Unterbringung. Wie lange kann ich ohne Hilfe von außen meinen Alltag noch meistern? Habe ich eine Familie, die mich unterstützt? Oder muss ich in eine spezielle Einrichtung wechseln, die wiederum zahlreiche Würde-Faktoren in den Ring wirft? Zwischen einer Seniorenresidenz, in der betagten Menschen Respekt und Wohlwollen entgegengebracht wird, und einem unterbesetzten Abstellgleis mit menschenunwürdigen Bedingungen liegen nämlich Welten. Das wirft dann die Frage auf, warum Pflegepersonal händeringend nach Unterstützung schreit und dieser Knochenjob so kläglich entlohnt wird, aber dieses Fass möchte ich jetzt nicht zusätzlich noch aufmachen. Vielleicht hat man sogar noch eine Familie, möchte dieser aber auch nicht zur Last fallen. So wie Yvonne… die sich deshalb „Ins kalte Wasser“ begibt.
Die französische Schriftstellerin und Comic-Autorin Séverine Vidal erzählt Yvonnes Geschichte überraschend ungeschönt und in allen Belangen bewegend. Das betrifft die durchaus beklemmenden und nachdenklichen Momente, in denen Yvonne sich verzweifelt in Einsamkeit zurückzieht und in der Vergangenheit schwelgt, aber auch die zahlreichen heiteren, ermutigenden Momente. Empathische Leserinnen und Leser können sich schnell in die Gefühlswelt von Yvonne hineindenken, da Vidal sie unglaublich nahbar erscheinen lässt. Dazu ist Yvonnes lebensbejahende Art ansteckend und herrlich charmant. Kein Wunder also, dass sie ihre Mitbewohnerinnen und Mitbewohner mit ihrem schwungvollen, manchmal herrlich albernen Wesen regelrecht infiziert.
Keine Scham
So offenherzig wie die Geschichte, sind auch die Zeichnungen von Víctor Lorenzo Pinel. Der Spanier hat bereits an mehreren animierten Kurzfilmen gearbeitet, was man seinen Illustrationen durchaus ansieht. Ein sehr schöner Zeichentrick-artiger Look, dessen Charaktere sofort die Sympathien auf ihre Seite ziehen. Die Details sind ebenso konsequent wie charmant. Jede gezeigte Falte verleiht ihrer jeweiligen Figur mehr Tiefe, lässt sie uns als Menschen wahrnehmen. Die Figuren haben Leben und etwas zu erzählen. Und bei dem tollen Artwork lohnt es sich nicht nur zuzuschauen, sondern auch zuzuhören. Vor nackten Tatsachen und Zärtlichkeiten macht Pinel, der zuvor schon mit Autorin Vidal an den Comics „Les petites marées: Rose“ und „La maison de la plage“ arbeitete, ebenfalls nicht halt. Tabus existieren in dieser wunderschönen Geschichte nicht, was ich für die einzig richtige - und somit ehrlichste - Herangehensweise halte.
Fazit:
Ein lebenbejahendes Plädoyer für Selbstbestimmung und ein würdevolles Altern. „Ins kalte Wasser“ beschönigt nichts, begeistert jedoch mit Herz und ansteckender Lebensfreude.
Séverine Vidal, Victor Pinel, Splitter
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