Wenn der reale Horror den fiktiven in den Schatten stellt
Trautes Heim…
Aisha, eine gläubige Muslima, zieht mit ihrem Partner Tom und dessen Tochter Kris ins Wohnhaus von Toms Mutter Leslie. Das Gebäude steht zu weiten Teilen leer, nachdem viele Wohnungen unbewohnbar wurden. Einige Mieter wollten auch einfach nur weg, weil dort ein unscheinbarer Mitbewohner, dem die Medien Nähe zu einer islamistischen Terrorzelle nachsagen, einen Sprengsatz zündete, der ein halbes Dutzend Menschen in den Tod riss. Ebenfalls ein Grund, warum die gläubige Aisha im Hausflur des Öfteren argwöhnisch und distanziert beäugt wird.
Seit ihrem Einzug wird Aisha zudem von Albträumen geplagt, die sich mittlerweile auch auf den Tag ausgeweitet haben. Monströse Gestalten scheinen sie zu verfolgen und bei einem nächtlichen Zwischenfall verletzt die geschockte Aisha beinahe versehentlich ihre Schwiegermutter in spe. Ein Vorfall, den sie lieber für sich behält, da Tom eh schon schlecht auf seine manipulative Mutter zu sprechen ist. Nur ihrer besten Freundin Medina, die glücklicherweise ebenfalls kürzlich in das verrufene Gebäude gezogen ist, kann Aisha sich komplett anvertrauen. Tom hat Medina gebeten, ein Auge auf seine Freundin zu haben, während er beruflich ein paar Tage außerhalb der Stadt eingespannt ist. Er vertraut weder seiner Mutter, noch den anderen Mietern, weshalb er am liebsten weit weggezogen wäre. Blut ist halt irgendwie dicker als Wasser.
Eines Abends, Aisha ist gerade in Recherchen über den Bombenanschlag und die Hintergründe vertieft, wird sie erneut von Visionen heimgesucht. In ihrer Panik verletzt sie zuerst ungewollt Kris. Die Tragödie ist komplett, als Leslie das Mädchen in Sicherheit zu bringen versucht. Leslie und Kris stürzen die Treppe hinunter, während Aisha von den Attacken des manifestierten Hasses überrollt wird. Dann wird es dunkel um sie. Und es bleibt dunkel. Nun ist es an Medina, Licht in dieses finstere Nichts zu bringen. Sie beginnt zu recherchieren, um ihre Freundin zu retten… und stößt auf Hass, Horror und das leibhaftige Böse.
Trifft den Nagel…
…durch den Kopf. Oder so ähnlich. Einen wirkungsvollen Horror-Comic zu erschaffen ist schon nicht einfach. Schließlich handelt es sich nicht um einen Film, in dem langsam Spannung aufgebaut wird, die sich dann in einem (mehr oder weniger) unvorhersehbaren Jumpscare entlädt und den Zuschauer zusammenzucken lässt. Schleichendes Grauen in Bilderfolgen zu erzählen, um dann in einem Panel auf den Punkt UND den Nerv der Leser zu treffen… schwierig. Spontan fallen mir da die Titel „Wytches“ (Splitter), „Uzumaki“ (Carlsen Manga) und der atmosphärisch-kranke „Sandmann“ (Kult Comics) ein, die dieses Kunststück schaffen. „Infidel“ gelingt es ebenfalls, sich in diese Riege einzureihen, denn die unterschwellige Bedrohung ist stets spürbar. Egal, ob man die grotesken Geistererscheinungen nun im Bild sieht oder nicht. Ich war beim Lesen permanent angespannt, da stets mit Allem zu rechnen war. Da vermied ich es auch tunlichst, nach dem Umblättern den Blick erstmal über die Seite(n) wandern zu lassen. Eine seltsame Angewohnheit, die es generell mal abzulegen gilt, denn gerade bei Horror-Comics möchte man sich den erhofften Schrecken doch ungern selbst wegspoilern.
Wie gesagt, sind Comics in diesem Genre nicht einfach, was auch der kanadische Star-Autor Jeff Lemire („Black Hammer“, „Gideon Falls“, „Descender“) so sieht und im Nachwort ebenfalls den Vergleich zum Medium Film heranzieht. Lemire verweist dort auf die akustische Unterstützung in Horrorfilmen. Allein durch Musik lässt sich die Spannung ins Unermessliche steigern, wodurch selbst ein simpler Effekt mit der passenden Klangkulisse verstärkt wird. Paradebeispiele sind da wohl Hitchcocks „Psycho“, „Der weiße Hai“ oder Jerry Goldsmiths Score zu „Das Omen“. Aber auch aktuellere Produktionen setzen auf dieses sichere Pferd. Beispielsweise „It Follows“ oder „Insidious“. Im Comic natürlich unmöglich… und dann müssen die Bilder gleich richtig sitzen, um das Kopfkino der Leser auf Touren zu bringen.
Gespenstische Vorurteile und gruseliger Rassismus
Eine andere Schwierigkeit ist es, politische Themen wirksam umzusetzen. Für mich ist es dabei wichtig, dass behutsam mit dem jeweiligen Thema umgegangen wird. Das heißt, dass der Inhalt mir möglichst nicht mit dem Holzhammer um die Ohren geschlagen wird. Also nicht nur Fakten runterbrechen, sondern mich durch eine Geschichte berühren. Extrem empfehlenswerte Beispiele wären da „Drei Steine“ (Panini) von Nils Oskamp, „Persepolis“ (Edition Moderne) und DER Comic, der mich nach jahrelanger Abstinenz wieder komplett ins Medium geschleudert hat: Art Spiegelmans „Maus“, den wirklich JEDER – ob Comic-Fan oder nicht – mal gelesen haben sollte. „Infidel“ lässt sich daran natürlich schwer bemessen, vor allem, da die genannten Beispiele auf autobiographischen Geschichten beruhen, aber das will das Buch auch gar nicht. „Infidel“ basiert nicht auf den persönlichen Erlebnissen EINER Person… „Infidel“ basiert in seinen politisch-gesellschaftlichen Aussagen auf den täglichen Erfahrungen VIELER Menschen. Angefangen von Misstrauen, Vorurteilen und Vorverurteilungen. Dabei gibt Autor Pornsak Pichetshote, selbst Thai-Amerikaner, sich nicht mit simplen Schwarz-Weiß-Darstellungen zufrieden, sondern thematisiert auch Entfremdung. Entfremdung von Rollenbildern, Religion und der eigenen Familie. Es gibt nicht nur DIE und DIE. Es gibt noch so viel dazwischen, was Pichetshote bis an die Wurzel greifen lässt. Und dieses Übel manifestiert sich in nicht greifbare Monster. Monster, die in so vielen unbemerkt schlummern… und in traurigen Fällen auch herausbrechen und sichtbar werden.
Damit es auch optisch gut- und wehtut
Für einen Horror-Comic, der durch seine gesellschaftliche Thematik gleich noch eine ordentliche Spur düsterer wird, sind die Illustrationen ungewöhnlich freundlich geraten. Gewiss nur, was die Helligkeit betrifft. Wo ähnliche Vertreter gerne mal in tiefster Schwärze ersaufen, spielt ein großer Teil der Handlung in erleuchteten Räumen. Und die Stimmung leidet darunter kein Stück. Dafür ist die Story einfach zu dicht. Die schroffen Zeichnungen von Aaron Campbell entfalten dabei einen ganz eigenen Sog. Wenn dann der Horror in den Vordergrund rückt, punktet er gleich noch mal mit einem grotesk-verdrehten Kreaturen-Design, was im positiven Sinne an John Carpenters „The Thing“ oder die Glibber-Party „From Beyond“ erinnert. Ein interessanter Kniff ist auch, dass kurze Rückblenden in Form von Kinderzeichnungen dargestellt sind. Die Farben von José Villarrubia sind angenehm zurückgenommen, was die Intensität betrifft, und überstrahlen Campbells fantastisches Artwork nicht. Perfekt abgestimmt.
Neben dem bereits angesprochenen Nachwort von Jeff Lemire gibt es auch ein Vorwort. Dieses wurde von Tananarive Due, eine der führenden Stimmen in der schwarzen Phantastik, verfasst. Dann findet sich noch eine Cover-Galerie im Anhang, die mit tollen Motiven (unter anderem vom großartigen Jae Lee) aufwartet und außerdem zwölf Motive von Studenten der Kunsthochschule in Maryland zeigt. Danach folgt die ausführliche Entstehung des gelungenen Covers, inklusive aller verschiedenen Design-Stufen, sowie der komplette Pitch an den Image Verlag, wo die Mini-Serie ursprünglich in fünf Heften erschien. Dieser beinhaltet eine Zusammenfassung der kompletten Story, Charakter-Entwürfe, Biografien aller Beteiligten und natürlich das Anschreiben an Eric Stephenson, dem Chief Creative Officer bei Image.
Fazit:
Eine vielschichtige, brandaktuelle Horror-Story, die es in sich hat. Das Team Pichetshote und Campbell erweist sich als wahrer Glücksgriff für dieses Projekt. „Infidel“ ist ein ausgeglichener Genre-Mix, der vom Splitter Verlag ansprechend und mit reichlich Bonusmaterial im Bookformat veröffentlicht wurde und somit auch qualitativ dem Inhalt gerecht wird.
Pornsak Pichetshote, Aaron Campbell, Splitter
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