Text:   Zeichner: Anja Wicki

in Ordnung

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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonNov 2022

Story

Ein starkes Debüt zu einem schwierigen Thema. Anja Wicki wird vielen Betroffenen aus der Seele sprechen. Aus eigener Erfahrung kann ich für viele der dargestellten Situationen Authentizität garantieren.

Zeichnung

Es bedarf nicht der größten Zeichenkunst, um ein Thema glaubwürdig und ebenso aussagekräftig umzusetzen. Die einfachen Zeichnungen erfüllen ihren Zweck.

Leben ohne zu Leben

Aus der Spur geworfen

Es kann aus heiterem Himmel passieren, dass unsere Psyche ein Eigenleben entwickelt und plötzlich der Meinung ist, sich auf den Kriegspfad mit uns begeben zu müssen. Ohne professionelle Hilfe lässt sie sich in den seltensten Fällen austricksen. Sich diesem wild gewordenen, entfremdeten Teil unserer Selbst entgegenzustellen, erfordert viel Kraft. Nicht nur von den Betroffenen, sondern nicht selten auch vom direkten Umfeld. Familie, Freunde, Partner werden ungewollt involviert. Ein weiterer Stein, den sich Erkrankte auf die Schulter laden, denn es ist ein häufiges Bild, dass man selbst dafür die Schuld bei sich selber sucht. Dafür, dass man andere in den finsteren Abgrund blicken lässt. Ihnen einen Blick in den Alltag gewährt, welcher mit Grau beginnt, sich in Grau fortsetzt und schließlich im selben Grau ersäuft, bis der nächste graue Morgen folgt. Nur dass ihr Alltag durch alle Farben des Regenbogens führt, während man selbst versucht, in farblosem Treibsand zu schwimmen. Situationen, die eigentlich das Normalste der Welt sind… oder es sein sollten, werden urplötzlich zu Herkules-Aufgaben. Wenn der Wecker einen nicht freudig den neuen Tag begrüßen lässt, sondern man antriebslos den Moment verflucht, in dem man ihn überhaupt gestellt hat, geht der alltägliche Kampf in die erste Runde. Aufstehen… ja, das klingt so einfach. Darauf hat die Welt gewartet. Dass ich aufstehe, meinen selbstverständlichen Tätigkeiten mit kräftezehrender Überwindung nachgehe, lieben Menschen ohne Absicht vor den Kopf stoße und mir zahlreiche neue Momente des möglichen… nein, des wahrscheinlichen Scheiterns von hinten die Beine wegtreten. Warum also aufstehen? Ja, solche Gedanken können einem nicht nur den Tag, sondern das ganze Dasein versauen.

Depressionen, Panikattacken, Zwangsstörungen. Psychische Erkrankungen, die nicht nach Geschlecht, Alter, Herkunft oder gar sozialem Status unterscheiden. Mit den ersten beiden Vertretern bin ich aus der Vergangenheit bestens bekannt. Kein Zuckerschlecken, weshalb mir die grauen Episoden bestens vertraut sind. Allerdings auch kein Grund, sich dafür zu schämen. Und schon gar kein Zeichen für Schwäche. Menschen, die sich durch solche Phasen kämpfen, den Mut trotz aller tristen Widrigkeiten nicht verlieren und für ihre Ziele unglaubliche Kräfte entwickeln, gehören zu den Stärksten, die ich je traf. Es gibt Zeiten, in denen muss man hinter den grauen Vorhang blicken. Das erfordert Mut, keine Frage. Doch dahinter wartet ein ganz neues Leben. Und zahlreiche Hände, die man greifen kann. Helfende Hände. Und auf die kommt es an. Es mögen wenige sein, aber deren Griff ist umso fester. So manche Hand habe ich persönlich vermisst, trauere den sogenannten „Freunden“, in deren heile Welt jemand mit einer „eingebildeten“ oder einer „kenn-ich-nicht,-hab-ich-nicht,-will-ich-nicht“-Krankheit nicht passt, keine einzige Träne nach. Ein erhellender Prozess. Und selbst dieser kann einen wachsen lassen. Betroffene sollen und MÜSSEN wissen, dass sie mit ihren Problemen nicht allein sind. Ein Gespräch mit dem Hausarzt oder selbst ein kleiner Anruf kann ein großer Schritt sein. Zumindest ein erster… aber womöglich der wichtigste von allen, die darauf folgen.

Die anonyme 24-Stunden-Hotline für Betroffene: 0800 – 1110111 oder 0800 – 1110222
Die Angehörigen-Beratung bei psychischen Erkrankungen: 0228 – 71002424
Das Kinder- und Jugendtelefon: 116111

Der ungebetene Gast

Die aus dem schweizerischen Luzern stammende Comic-Künstlerin Anja Wicki hat sich für ihr Debüt an das bleischwere Thema der psychischen Erkrankungen gewagt. Mit reduzierten und einfachen Strichen zeichnet sie das Leben von Eva nach. Eva ist Architektin und steckt eigentlich in der Blüte des Lebens, wenn selbiges ihr nicht zentnerschwere Stolpersteine in den Weg legen würde. Das Leben der jungen Frau ist streng durchstrukturiert, um den Hindernislauf eines jeden Tages überhaupt irgendwie überwinden zu können. Kleinste Abweichungen werfen sie aus der Bahn und sie verwendet Vermeidungstaktiken, damit sie bestimmten Szenarien gar nicht erst durchstehen muss. Wo andere Freude empfinden und Spaß haben, ist Eva diejenige, die Blut und Wasser schwitzt. Ein Konzertbesuch mit Freunden? Undenkbar. Es ist nicht so, dass sie nicht wollen würde… sie kann einfach nicht. Und erntet dafür auch gerne mal Unverständnis. Zu einer Aktivität im Freundeskreis zuzusagen ist einfach. Vor allem, wenn diese noch in ferner Zukunft liegt. Dafür fällt das unweigerliche Absagen umso schwerer. Auf den letzten Metern zu kneifen ist auch für sie nicht schön. Wenn der Körper jedoch streikt, helfen auch die besten Absichten nichts… und das ärgert Eva nicht nur, es lässt sie zunehmend verzweifeln. Tränen der Trauer und der Wut sind das Resultat. Seit ihrer Jugend fühlt sie sich deshalb gefangen. Gefangen in der unbenannten Krankheit, die ihr Leben eisern und unnachgiebig kontrolliert. Zahlreiche Therapeutinnen und Therapeuten hat sie im Laufe der Jahre verschlissen. Ebenso deren Therapien. Johanniskraut, akribische Tagespläne, Atemübungen, Muskelentspannungen… nichts konnte ihr bislang helfen. Da ist es eine aufmunternde Geste, als Evas Großmutter ihr zu ihrem 30. Geburtstag eine Karte mit einer Abbildung des Erzengels Gabriel schenkt. Dazu noch der liebgemeinte Wunsch, dass ein Schutzengel auf die gebeutelte Enkelin aufpassen mag. Den hätte Eva auch bitter nötig, denn vor lauter Verzweiflung beginnt sie, sich selbst zu verletzen. Doch dann klingelt es plötzlich an der Tür. Es ist Gabi. Wer Gabi ist? Tja… das wüsste Eva auch gerne. Aber Gabi stellt ihr Leben gehörig auf den Kopf.

Fazit:

Ein wichtiges, leider aber noch immer unterrepräsentiertes Thema, welches schon längst in allen gesellschaftlichen Schichten eine große Rolle spielt. Dank des offenen und nicht minder mutigen Umgangs von prominenten Vertretern zum Thema Depressionen (die mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Folge von „Chez Krömer“ mit Gast Torsten Sträter sei hier wärmstens empfohlen!), ist die Akzeptanz vielleicht größer geworden, jedoch übersteigt die „Nachfrage“ das „Angebot“ noch immer bei Weitem. In Comic-Form leistet Anja Wicki nun mit „in Ordnung“ einen lesenswerten Beitrag und es bleibt zu hoffen, dass psychisch Erkrankte in Zukunft nicht mehr einen Ärzte-Marathon mit reichlich Leerlauf absolvieren müssen, um die Hilfe zu erlangen, die sie dringend benötigen.

in Ordnung

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