Text:   Zeichner: Manuele Fior

Hypericum

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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonJul 2023

Story

Zwei Erzählebenen mit überraschenden Überschneidungen. Der Wechsel ist dank des Tagebuch-Kniffs nahtlos.

Zeichnung

Tolle Bilder, die dank der stimmigen Kolorierung eine wohlige Atmosphäre erzeugen.

Gegensätze ziehen sich an

Lebenskünstler und Nachtschwärmer

Teresa ist jung, zielstrebig und in dem, was sie tut, verdammt gut. Das weiß sie, dennoch fühlt sie sich im Berlin der Nachwendezeit ziemlich verloren. Die Sprachbarriere stellt der Italienerin immer wieder Hürden in den Weg, doch sie lässt sich nicht entmutigen. Selbst wenn ihr Stolpersteine bislang fremd waren, kennt sie trotzdem nur eine Richtung: geradeaus. Immerhin hat sie ein Ziel vor Augen. Mit dem Stipendium an der Technischen Universität Berlin erfüllt sich ein lang gehegter Traum. Als wissenschaftliche Mitarbeiterin ist sie wichtiger Bestandteil des Teams um die legendäre Tutanchamun-Ausstellung, die gerade in der Hauptstadt vorbereitet wird. Kein Neuland für Teresa, die unter Schlaflosigkeit leidet und in Momenten der Angst, wenn die Furcht vor dem nächsten Tag sie nicht zur Ruhe kommen lässt, Flucht in der Vergangenheit sucht. Fast jede Nacht blättert sie durch die Tagebuchaufzeichnungen von Howard Carter, jenem Ägyptologen, der 1922 das Jahrtausende verschollene Grabmal von Tutanchamun im Tal der Könige entdeckte.

Erst zwei Tage in Berlin und von den nahezu schlaflosen Nächten, die trotz Schlafmitteln endlos lang erscheinen, entsprechend gezeichnet, trifft Teresa zufällig auf ihren Landsmann Ruben. Ihre Heimat scheint zunächst die einzige Gemeinsamkeit, denn der Künstler Ruben ist das komplette Gegenteil der geradlinigen Teresa. Ein Freigeist, der sich einfach treiben lässt, nie auf direktem Weg ein Ziel ansteuert. Für Ruben ist die Hauptstadt eine einzige Spielwiese, auf der an jeder Ecke etwas Neues wartet. Teresa ist wohl selbst am meisten überrascht, dass sie sich von seiner Unbedarftheit mitreißen lässt und versucht, gegen ihr Naturell auf der Welle der Spontanität mitzureiten. Doch Teresas Schlafstörungen bleiben. Kann das junge Glück, das auf einem wackeligen Fundament gebaut ist, bestehen?

Historischer Fund

Als der Brite Howard Carter (1874 – 1939) mit seinem Grabungsteam im November 1922 in der Nähe des altägyptischen Theben auf das nahezu ungeplünderte Grabmal des Pharaos Tutanchamun stieß, war dies ein Sensationsfund. Es wurde akribisch an der Freilegung gearbeitet, was einige Komplikationen mit sich brachte. Nicht nur organisatorische, sondern auch rechtliche. Bis 1932 sollte es dauern, bis alle Arbeiten abgeschlossen waren. Die weltweiten Medien beobachteten jeden Schritt genau und der Ort des Geschehens wurde ein Touristenmagnet. Carter selbst schrieb alle Details in Tagebücher und auf Karteikarten. Seine gesamten Aufzeichnungen hielt er dann gemeinsam mit dem Ägyptologen Arthur C. Mace in der dreibändigen Veröffentlichung „The Tomb of Tut-Ankh-Amen“ für die Nachwelt fest.

In diesen Büchern blättert Teresa immer wieder, wenn sie sich vom Alltag überrollt fühlt. Wenn die Nächte sich endlos anfühlen und sie die Minuten zählt, bis der Wecker klingelt. Nicht nur eine einfache Vorbereitung auf die bevorstehende Ausstellung, sondern eine entspannende Flucht aus dem Hier und Jetzt.

Ebenen-Wechsel

Somit bekommen wir als Leser gleich zwei Geschichten präsentiert. Die von Teresa, die überfordert versucht, in der neuen Umgebung zurechtzukommen, und die Geschichte des legendären Fundes im Tal der Könige. Manuele Fior, Autor und Zeichner von „Hypericum“, lebte nach seinem Studium der Architektur selbst in Berlin, wo er sich zuerst mit kleineren Aufträgen über Wasser hielt, bis er nach diversen Kurzgeschichten im Jahr 2005 mit „Menschen am Sonntag“ (AVANT) sein Graphic-Novel-Debüt vorlegte. Der Verdacht liegt nahe, dass der italienische Künstler Eindrücke seiner Zeit in Berlin in „Hypericum“ hat einfließen lassen.

Fior beweist ein gutes Hänchen für seine Figuren. Die Darstellungen von Teresa und Ruben sind glaubhaft, ihre Schicksale greif- und nachvollziehbar. Obwohl wir es mit einer Liebesgeschichte zu tun haben, schweben die Akteure nicht auf Wolke Sieben, denn die Stimmung ist eher gedrückt als heiter. Dennoch ist ihm ein sehr starkes Werk gelungen, dem ich mich nur schwer entziehen konnte. Vielleicht weil es so ehrlich ist und trotz Lovestory nicht nur die Sonnenseiten beleuchtet werden. Die Wechsel ins Jahr 1922, wo die Tagebucheinträge von Howard Carter für uns Leser ansprechend dargestellt werden, erfolgen stets nahtlos. So erscheinen die beiden Erzählebenen stets wie aus einem Guss und sorgen für Abwechslung. Der Titel des Buches erklärt sich im Laufe der Geschichte übrigens von selbst, da möchte ich nicht vorgreifen.

Künstlerisch spielt Fior in der oberen Liga. Die warmen Farben ziehen sich durchs ganze Buch, sind in der Wüstenlandschaft des Jahres 1922 aber besonders dominant. Die hauchzarten bis nicht vorhandenen Konturen lassen die Bilder sanft und ruhig erscheinen. Die Berlin-Passagen sind farblich abwechslungsreicher und verspielter.

Fazit:

Eine ruhig erzählte Graphic Novel, die fließend zwischen zwei Erzählebenen hin und her schwingt. Historisch auf der einen Seite, tragisch-romantisch auf der anderen. Dennoch gibt es gleich mehrere Verbindungen zwischen den Erzählsträngen, die Manuele Fior meisterhaft miteinander verknüpft hat. Trotz teils nachdenklicher und überraschend bedrückender Stimmung ein auf faszinierende Weise positives Buch.

Hypericum

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