Die Suche nach Antworten… zu (bisher) nie gestellten Fragen.
Spurensuche
Die 1977 in Karlsruhe geborene Autorin Nora Krug pendelte schon während ihrer Studienzeit zwischen Berlin, Liverpool und New York. In letztgenannter Metropole lebt und arbeitet sie seit mehreren Jahren. Ihre Bildergeschichten erscheinen unter anderem in der „New York Times“ und sie lehrt als Professorin für Illustration an der „Parsons School of Design“. Nachdem Krug in eine amerikanisch-jüdische Familie einheiratete und fernab ihrer ursprünglichen „Heimat“ lebte, fühlte sie sich deutscher denn je. Dieses Gefühl, die Schuld die sie verspürte, wenn sie ihre ursprünglichen Wuzeln offenlegte und prägende Erinnerungen an ihre Kindheit brachten sie dazu, auf Spurensuche zu gehen und die Hintergründe ihrer Vorfahren zu durchleuchten.
Bisher kannte Nora Krug nur Geschichten über ihre Familie. Geschichten darüber, was ihre Großeltern während des Krieges gemacht haben. Aber es waren halt nur „Geschichten“… was fehlte, waren handfeste Beweise. Schwarz auf weiß gedruckt. Anhand weniger bekannter Fakten beginnt hier eine akribische Tiefenrecherche, die die Autorin vor Rätsel stellt, ihr unter den Nägeln brennende Fragen beantwortet, weitere neue Fragen aufwirft und mit dem Mysterium konfrontiert, was der Begriff „Heimat“ eigentlich bedeutet… wie man ihn interpretieren kann… und ob „Heimat“ mehr ist, als nur ein Gefühl.
Über ihren Onkel wusste Krug nur, dass dieser Hakenkreuze in sein Schulheft malte und im jungen Alter von 18 gefallen war… auf Seiten der SS. Diese Hefte und alte Fotografien entdeckte Nora Krug als Kind in einer alten Kommode. Ihr Vater, der einige Jahre nach dem Tod des Bruders zur Welt kam, trägt dessen Namen. Während einer Italien-Reise, wo die Familie regelmäßig ihren Sommerurlaub verbrachte, besuchten sie gemeinsam einen alten Soldatenfriedhof. Dort ging Franz-Karl, Noras Vater, in einer Kapelle das Namensregister durch und stieß tatsächlich auf das unbekannte, gefallene Familienmitglied, dem man nie zuvor so nah war.
Nora Krugs Großvater Willi arbeitete als Chauffeur bei einem Textilhändler und hat angeblich seinen jüdischen Arbeitgeber im Gartenschuppen seiner Schwiegermutter vor den Nazis versteckt. Dieser bedankte sich mit einer großen Summe Geld, mit der Willi sich mit einer Fahrschule selbstständig machte. Wo war Willi in der Nacht vom 9. Auf den 10. November 1938, der Reichskristallnacht, als direkt gegenüber seines Büros eine Synagoge in Brand gesteckt wurde? Hat er davon nichts mitbekommen? Oder… hat er?
Typisch deutsch?
Nachdem Nora Krug von einer ihrer ersten Begegnungen, die sie in New York mit einer Holocaust-Überlebenden machte, erzählt, geht sie auf ihre Kindheit und Jugend ein… wie sie von den Grausamkeiten im Zweiten Weltkrieg erfuhr, Konzentrationslager besuchte und sich bereits in jungen Jahren mit dem Konzept der Erbsünde befasste und Jesus während einer Beichte versprach, daran zu glauben. Selbst nach Jahren in der neuen Wahl-Heimat versuchte Nora Krug noch ihre deutsche Aussprache zu verbergen, sprach mit britischem Akzent oder sprach in kurzen Sätzen, um ihre Wurzeln nicht zu offenbaren. Auch das Heben des rechten Arms im Yoga-Unterricht fiel ihr laut eigener Aussage schwer, ohne dabei an Adolf Hitler zu denken.
BITTE… an diesem Punkt – und das ist sehr früh im Buch – war ich kurz davor, das Lesen zu beenden. Ich bin selber Baujahr 1979 – also nicht so weit von der Autorin entfernt – und habe mich im Ausland noch nie für meiner Herkunft, die ich mir schließlich auch nicht ausgesucht habe, geschämt. Wer heute, im Jahr 2019, noch mit dem Finger auf einen Deutschen zeigt und sofort einen Nazi sieht, hat entweder nicht alle Latten am Zaun oder die letzten Jahrzehnte im Ruhemodus verbracht. Gerade Amerikaner – oder auch andere Nationen – sollten erstmal in den eigenen Geschichtsbüchern nachschlagen, bevor sie ein ganzes Land verurteilen. Meine Generation – und selbst die vorangegangene – trägt keine aktive Schuld der NS-Zeit mit sich herum. WO wir allerdings ALLE in der Plicht stehen, ist, dass sich die grausamen Verbrechen an der Menschheit nicht mehr wiederholen. Die aktuellen Entwicklungen in unserem Land sind gewiss mit Sorge zu betrachten, doch braucht sich kein Bürger mit halbwegs gesunden Menschenverstand den Nazi-Schuh der Vergangenheit anzuziehen und für seine Herkunft zu schämen. Wo Amerikaner allmorgendlich die Stars & Stripes-Flagge im Vorgarten hissen und zum Unterrichtsbeginn die Nationalhymne gesungen wird, sieht man unsere Fahne höchstens mal bei einer Fußball-WM öffentlich wehen… aber dies ist nur mein Eindruck.
Natürlich ist es jedem selbst überlassen, wie weit er sich für die unsagbaren Verbrechen der Vergangenheit verantwortlich fühlt und selbstverständlich möchte ich auch Nora Krug ihrer angenommenen Erbschuld nicht berauben, doch die Art und Weise, wie die Autorin diese an den Leser heranträgt, ist mir zu penetrant geraten.
Gesamtkunstwerk
Nora Krug gräbt tief. Das muss sie auch, denn Antworten werden ihr nicht auf dem Silbertablett serviert… selbst nicht in unserer hochtechnisierten Zeit, in der man von überall auf der Welt Zugriff auf jede noch so kleine Information hat. Die Arbeit an „Heimat – Ein deutsches Familienalbum“ verschlang ganze sechs Jahre… und das merkt man ihrem außergewöhnlichen Werk auf jeder Seite an. Detailliert berichtet die Autorin von ihren Recherche-Fortschritten und -Niederlagen. Krug geht dabei - mehr oder weniger - chronologisch vor, unterbricht aber immer wieder mit eingestreuten Zeitungsartikeln, themenbezogenen Illustrationen und Fotografien. Auch Schriftwechsel mit Zeitzeugen, Kinderzeichnungen und Abschriften aus historischen Manuskripten gibt es zu sehen und der Leser erhält zudem Einblicke in die Schulhefte ihres verstorbenen Onkels. In unregelmäßigen Abständen wirft Nora Krug auch eine Seite aus dem „Katalog deutscher Dinge“ ein, auf denen typisch heimische Utensilien beleuchtet werden… beispielsweise der klassische Leitz-Aktenordner oder die Wärmflasche. Auch „Flohmarktfunde“ werden - mit Preisangabe – immer wieder von der Autorin eingeworfen. Von Karikaturen, Briefen, Abzeichen, bis hin zu Hitlerjugend-Sammelbildern und getrocknetem Edelweiß ist so ziemlich alles dabei.
Fazit:
Mit „Heimat – Ein deutsches Familienalbum“ ist Nora Krug ein extrem außergewöhnliches Buch über die Aufarbeitung ihrer eigenen Familiengeschichte gelungen, dass sich nicht so leicht einer einzigen Kategorie zuordnen lässt. Eine Mischung aus Familien-Biografie, Sachbuch, Graphic Novel und Bildband. Dennoch liest sich das Werk ungemein flüssig und spannend. Sogar so spannend, dass ich es nicht mehr aus der Hand legen konnte und innerhalb eines Tages aufgesogen habe. Ihre sechsjährige Recherche-Odyssee liefert stellvertretend für tausende Familien Antworten auf Fragen, die (bisher) nie gestellt wurden.
Ein großes Lob auch an den Penguin Verlag, der diesem großartigen Familienalbum auch die gebührende Veröffentlichung spendiert hat. Liebevoll handschriftlich übersetzt (im Original hat Nora Krug „Belonging“ auf Englisch verfasst) und durchweg hochwertig verarbeitet, kommt „Heimat – Ein deutsches Familienalbum“ als schweres Hardcover mit dickem Papier und Lesebändchen.
Interessierten Comic-Freunden sei an dieser Stelle Art Spiegelmans schockierendes Meisterwerk „Maus“ empfohlen, welches die wahre Geschichte seines Vaters, der einst das Konzentrationslager überlebte, bis ins Mark treffend in Fabel-Form erzählt. Auch Nils Oskamps autobiografische Graphic Novel „Drei Steine“ befasst sich eindrucksvoll mit der Thematik und erzählt davon, wie der Autor und Zeichner sich in seiner Jugend in Dortmund Neo-Nazis in den Weg stellte und mehrfachen Anschlägen auf sein Leben entging.
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