TRAUMhaft
"Gute Nacht, ihr Prinzen von Maine… ihr Könige von Neuengland."
- Sir Michael Caine (als Dr. Wilbur Larch in „Gottes Werk & Teufels Beitrag“; USA 1999)
Wenn wir die Augen schließen, uns vollkommen auf unsere Gedanken konzentrieren… abschalten… abschweifen, kann alles möglich sein. Der Kraft unserer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Keine Mauern. Keine Regeln. Alles unterliegt unserer Kontrolle. Unseren Befehlen. Geben wir diese Kontrolle aus der Hand, lassen Unmögliches möglich werden, Dinge, die wir nicht mehr beeinflussen können, verlassen wir unser selbstbestimmendes Terrain und… träumen.
Träume unterwerfen sich dabei keinerlei Regeln, verlaufen nie nach Plan und sind ebenso wenig vorhersehbar. Sie können unsere Wünsche und Sehnsüchte wiederspiegeln, aber ebenso unsere Ängste. Mal verarbeiten wir bestimmte Erlebnisse… schlimme Ereignisse, die unbewusst und scheinbar unsichtbar unter einem schützenden Schleier brodeln und sich abseits der Wachwelt kanalisieren, sich an die Oberfläche graben, um ihnen Auge in Auge entgegenzutreten… dann wieder fördern wir die schönen Momente zu Tage. Diese, bei denen uns warm wird. Geborgenheit. Sicherheit. Frieden. Die wohltuende heile Welt, die wir uns alle erträumen… ja, träumen.
Dann schrecken wir hoch, weil uns ein Traum den Atem raubt. Jagd. Flucht. Vom Dunkeln durch schwammige Erinnerungsfetzen verfolgt. Auf unebenem Boden kommen wir kaum voran, während die Umgebung sich verengt, immer düsterer wird, verschwimmt… und uns schließlich stumm verschluckt. Oder der Schrecken zieht uns den Boden unter den Füßen weg. Lässt uns keinen Halt mehr. Ohne Fallschirm, ohne rettenden Anker… ohne Stopp-Taste, ohne Ausweg. Und schließlich, kurz vor dem Aufprall, erwachen wir aus dieser unwirklich wirklichen Welt, die unsere Realität auf jede erdenkliche, nicht kontrollierbare Art spiegelt, verzerrt… und vielleicht ansatzweise begreiflich macht.
Kleiner Mann – was nun?
Der kleine Hasenjunge Yon ahnt noch nicht, in welche Welten er sich erträumt, als er sich abends ins wärmende Bett legt. Hinabgleitend durch kristallklare Gewässer, hinein in farbenfrohe Wälder, bis unter einen mit Sternen gespickten Nachthimmel… dort findet er eine Knospe. Noch verschlossen, aber von unberührter Vollkommenheit. An ihrer Unterseite: Ein Schlüssel. Ergibt das Sinn? Eine Knospe mit einem Aufzieh-Schlüssel? Natürlich… für Yon und alle Träumenden. Der Junge dreht den Schlüssel. Dreht ihn immer weiter, bis die Knospe sich zur wunderschönen Blüte öffnet. Mit strahlenden Kinderaugen, voller Unschuld und Neugier, betrachtet Yon das, was die Blütenblätter zuvor schützend verhüllten. Eine Figur. Eine weibliche Silhouette. Elegant, anmutig, bildschön und zerbrechlich. In seinen sanften Händen zieht die filigrane Statue bei jeder von Yons Bewegungen farbige Schweife durch die Nacht. Und als ein Tautropfen von der Blüte hinabrinnt, eröffnet sich eine noch viel größere Welt für den kleinen Träumenden.
Yon durchstreift Wälder mit gigantischen Bäumen, die bis in den Himmel ragen. Geht auf Tuchfühlung mit majestätischen Drachen, den mächtigen Bewohnern Yrias. Berührt diese einmaligen Geschöpfe, deren Schuppen golden in der Sonne glänzen. Berauscht und völlig losgelöst zieht es Yon durch die Lüfte… bis er durch schwarzes Gefieder hindurch in freiem Fall auf dem Boden der Tatsachen landet. Hier endet der unbeschwerte Weg seiner phantastischen Reise und die Dunkelheit hält Einzug in die eben noch farbenfrohe Traumwelt. Dunkle Mächte, Wesen mit scharfen Klauen und fletschenden Zähnen, haben es auf die noch immer leuchtende Blüte abgesehen, deren Blätter sich nun wieder schützend um die kleine Statue hüllen. Yon muss fliehen. Aufopfernd umklammert er seinen kostbaren Schatz, während die reißenden Bestien zu ihm aufschließen und unbarmherzig und voller Zerstörungswut ihre Klauen in den Boden rammen… stets in der Hoffnung, den Träumenden am Vorankommen zu hindern.
In einer vermeintlichen Verschnaufpause, in der Yon sich in einem bizarren Zerrbild seiner vertrauten Umgebung in Sicherheit wähnt, erblickt er eine Tür. Auf ihr eine Abbildung der leuchtenden Knospe, die er immer noch fest an sich presst. Er greift zum Knauf, doch die zerstörerische Dunkelheit will ihn am Durchschreiten hindern. Der mutige Junge schafft es, lässt die Pforte hinter sich und erblickt… ein Schwert. Es ist klein und aus Holz, aber es ist ein Schwert. Langsam hinabgleitend in das aquamarine Blau, das den Boden bedeckt. Yon nimmt es auf… und ist bereit, sich und seinen kostbaren Pfund zu verteidigen. Sein Abenteuer mit ungewissem Ausgang hat gerade erst begonnen…
Ansichtssache
Die gesamte Geschichte von „Haunter of Dreams“ findet im Traum des kleinen Yon statt. Bis auf eine kurze, schriftliche Einleitung werden wir gänzlich mit den Bilderfluten alleingelassen. Wir stehen an der Seite des Jungen, sehen was er sieht, erleben was er erlebt… ohne Erklärung, ohne Hilfe. Nicht wissend, was als Nächstes geschieht. Ganz wie… im Traum. Lediglich am Ende werden wir wieder an die Hand genommen, damit uns die Tragweite von Yons Abenteuer bewusst wird. Wir sind also nicht nur Zeugen eines kindlichen Albtraums, sondern stehen dem Kleinen bei der Verarbeitung durchaus realer Ängste bei, deren Bewältigung für die Welt von Yria und ihren Bewohnern, den Yrianern, einst gänzlich neue Türen öffnete.
Nun mag man sich fragen, ob ein Traum genug Gehalt für ein ganzes Buch bietet? Absolut! Man „liest“ zwar nicht lange an „Haunter of Dreams“, aber ich behaupte mal, dass es auch gar nicht die Absicht der Künstlerin war, möglichst lange zu unterhalten… sondern möglichst intensiv. Und DAS ist ihr mit Bravour gelungen.
Ein Comic ohne Text… kann das funktionieren? Unumstritten: JA, denn der Bilderrausch erzeugt Emotionen. Emotionen, die jeder Leser, beziehungsweise BETRACHTER wohl anders interpretieren wird. Wobei „Comic“ auf „Haunter of Dreams“ auch nur entfernt zutrifft. Man könnte dieses wunderschöne Buch eher…
Kunstwerk
…nennen. Denn was die deutsche Künstlerin Claudya Schmidt hier gezaubert hat, übertrifft so ziemlich alles, was man bisher zwischen zwei Buchdeckeln finden konnte. Eine derart liebevolle Umsetzung, dass es einem fast die Tränen in die Augen treibt. Der flauschige Hauptcharakter Yon, den man am liebsten aus seiner zweidimensionalen (Traum)welt herausreißen möchte, um ihn schützend an sich zu drücken… dann die bildgewaltigen Traum-Ebenen, die unfassbar detailliert und aufwendig mit immer neuen Entdeckungen aufwarten und schließlich die leuchtende Farbenpracht, die mit nie gesehener Strahlkraft zeigt, zu was digitale Kunst - gepaart mit dem nötigen Talent - so alles imstande ist.
Nach den „Chroniken von Yria“, die mit „Myre“ in zwei Bänden ebenfalls bei Splitter erschienen sind, erweitert Claudya Schmidt ihren Yria-Weltenbau nun um ein neues Kapitel. Thematisch vollkommen anders und auch an ein jüngeres Publikum gerichtet, fühlt sich „Haunter of Dreams – Die Legenden von Yria“ dennoch vollkommen richtig an. Ein phantastisches Universum, das mit Sicherheit noch weitere Abenteuer hervorbringen wird. Egal auf welcher Ebene.
Fazit:
Die Kreativität von Ausnahmekünstlerin Claudya Schmidt scheint keine Grenzen zu kennen… weder hier, noch in der Traumwelt. Optischer Bombast, den man nur selten zu Gesicht bekommt. Und dazu eine Geschichte, die zu Herzen geht. Ohne Worte… dafür mit umso mehr Gefühl.
Claudya Schmidt, Claudya Schmidt, Splitter
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