Let’s talk about sex, baby
Vom journalistischen Essay zum Reportage-Comic
Die marokkanische Gesellschaft habe eine schizophrene Einstellung zum Thema Sexualität. Einerseits sei vorehelicher Sex verboten, andererseits sei er fester Bestandteil des Lebens der jungen Marokkaner. Das ist Leïla Slimani bei einer Lesereise aufgefallen, die sie in ihrem Heimatland absolviert hat. Die französisch-marokkanische Journalistin und Autorin hat daraufhin mit vielen verschiedenen Frauen – und auch Männern – aus unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft und verschiedenen Teilen des Landes gesprochen. Daraus ist ein journalistisches Essay geworden, den sie später zusammen mit der Illustratorin Laetitia Coryn zu einem Reportage-Comic verarbeitet hat.
Auf das Recht auf Sexualität
Nicht nur auf rechtlicher Ebene wird Sexualität in Marokko weitestgehend unterbunden. Vor allem der gesellschaftliche Druck macht es schwer, über Sex und Lust frei zu sprechen. Für Slimani müsse also, bevor die Sexualität sich befreien kann, das Wort frei werden. Ohne, dass offen darüber geredet wird, ist für sie ein gesellschaftlicher Wandel nicht möglich. Deswegen redet sie mit jungen Menschen in ihrer Heimat: von der studierten jungen Frau, die erst sehr spät ihre Sexualität entdecken konnte, über den Regisseur, der wegen seines Films über Prostituierte in Marokko Todesdrohungen bekommen hat, bis hin zur Prostituierten in Casablanca, die ihre Familie finanziell unterstützt. Dadurch kann man als Leser diese – zumindest mir – unbekannte und sehr weit entfernte Gesellschaft besser kennenlernen. Themen wie das Kopftuch, Ehe und Abtreibung werden sehr anschaulich anhand von persönlichen Erfahrungen erzählt.
Komplexes Thema, naive Zeichenkunst
In „Hand aufs Herz“ stellt Slimani ein sehr komplexes Thema, das sich aus vielen unterschiedlichen Aspekten zusammensetzt, dar. Man merkt sehr oft, dass ein journalistischer Text der Graphic Novel zugrunde liegt. Es gibt viele Textpassagen, die etwa gesellschaftlich brisante Ereignisse schildern oder Gesetzesartikel wiedergeben. Diese werden aber sehr gut von den schönen Bildern von Laetitia Coryn aufgefangen. Wenn auf Textebene etwa über die Debatte um Abtreibungen erzählt wird, wird beispielhaft die Auswirkungen von Artikel 490, welches Sex zwischen unverheirateten Personen verbietet, gezeichnet.
Dabei sind Coryns Bilder eine tolle Mischung aus Illustration und fast fotorealistischer Darstellungen. Das liegt meiner Meinung nach einerseits daran, dass die Bilder fast wie mit Wachsmalkreide gemalt sind, was ihnen etwas kindliches verleiht. Andererseits sehen die Bilder, die reale Ereignisse darstellen, sehr echt aus.
Fast einseitig, aber nur fast
Die sexuelle Freiheit zu erlangen ist vor allem für Marokkanerinnen ein wichtiger Schritt in Richtung Emanzipation. Dass Slimani ihnen eine Stimme geben will, finde ich sehr wichtig und sehr lobenswert. Dabei kommen auch verschiedene Frauen zu Wort, aber die meisten haben den gleichen gesellschaftlichen Hintergrund. Zwar redet Slimani mit einer Prostituierten und auch ihr Hausmädchen erzählt ihr, wie sie zum Thema steht. Diese Geschichten kommen aber für mich ein bisschen zu kurz. Auch die Tatsache, dass man fast nur die Geschichten heterosexueller Frauen hört, ist schade. Es ist zwar verständlich, warum Slimani nur über eine lesbische Frau redet – sexuelle Minderheiten sind zwar durch das Internet und den sozialen Netzwerken untereinander besser vernetzt, werden von der Gesellschaft aber immer noch sehr unterdrückt und Slimani erzählt, dass sie lange gebraucht hat, bis sie Leute zum Reden gefunden hat –, trotzdem hätte ich mir mehr als nur sechs Seiten gewünscht.
Auch wenn ich es gut finde, dass fast nur Frauen zu Wort kommen – es geht ja schließlich vor allem um sie –, ist es gleichzeitig aber schön, dass gleichgesinnte Männer sich dazu äußern. Und nicht nur der intellektuelle Regisseur, sondern auch die Ladenbesitzer von nebenan, die Slimani im Epilog erzählen, dass für sie Liebe und Sex nun einmal zusammengehören und dass sowohl Männer als auch Frauen in der Lage sein sollten, ihre Jugend zu genießen.
Fazit:
Ich finde, dass „Hand aufs Herz“ einen sehr interessanten Einblick in eine mir sehr fremde Gesellschaft ermöglicht hat. Der alltägliche Kampf dieser Frauen um Selbstbestimmung – sowohl, was ihre Sexualität als auch ihr gesamtes Leben betrifft – führt einen gut vor Augen, welche Privilegien man hat. Aber gleichzeitig wurde mir bei der Lektüre auch klar, dass diese keineswegs selbstverständlich sind. Die Bilder von Laetitia Coryn haben geholfen, die vielen Textpassagen gut zu unterbrechen und das Ganze so verständlicher und lockerer zu gestalten.
Leïla Slimani, Laetitia Coryn, Avant
Deine Meinung zu »Hand aufs Herz«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!