Wenn der Eismann vierzehnmal klingelt
Ein einsamer Job…
…für den man schon geboren sein muss. Und selbst dann kann die schier unendliche Weite ordentlich am Gemüt nagen. Grönland, ein autonomer Teil, der zu Dänemark gehört, ist die größte Insel der Erde und dementsprechend weitläufig ist es dort. Landschaftlich atemberaubend, birgt die eisige Landschaft noch so manches Geheimnis. So wurden bei Bohrungen schon DNA-Spuren gefunden, die mehrere Hunderttausend Jahre alt zu sein scheinen und Hinweise darauf geben, dass Grönland tatsächlich mal eine wärmere Region war, was der deutschen Übersetzung, „Grünland“, dann auch schon ein treffenderes Bild verleiht. Bedenkt man, dass Grönland bei einer Fläche von 2.166.000 km² nur rund 56.000 Bewohner hat, bekommt man schnell einen Eindruck davon, wie einsam es dort werden kann. Zum Vergleich: Deutschland hat aktuell ungefähr 83 Millionen Einwohner, die sich eine Fläche von 357.386 km² teilen.
Wechselschicht
Ein Haufen unverbesserlicher Typen. Jeder für sich ein Unikat. Aber sie alle haben eines gemeinsam: Sie sind Jäger, Fallensteller und irgendwie auch… Überlebenskünstler. Und sie leben und arbeiten im arschkalten Grönland, wo selten mal Besuch vorbeischneit, und sich höchstens Moschusochsen, Robben oder gar Eisbären in die Nähe der überschaubaren, bärtigen Ansammlung von mit allen Eiswassern gewaschenen Männern wagen.
Da ist zum Beispiel der alte Valfred, der seinem mürrischen Kollegen hilfreiche Tipps gibt, wie man die Hormon-Achterbahn in der Einsamkeit frostig zum Entgleisen bringen kann. Oder Herbert, der die Station monatelang mit Alexander teilt. Dem besten Gefährten, den er je hatte. Mit dem er über alles reden kann und der ihm immer zuhört. Ach so… Alexander ist übrigens ein Hahn. Dann der junge Lasselille, der neu- und wissbegierig den Geschichten der alten, erfahrenen Haudegen lauscht. Interessant wird es auch, als der Tätowierer Joenson vom Festland am Kap Thompson eintrifft und lukrativen Geschäftssinn beweist, indem er die skeptische Belegschaft mit Kunstwerken verziert. Oder der schwarze William, der alles für die imaginäre Traumfrau geben würde, die den Männern reihenweise den Kopf verdreht und für gewisse Sachleistungen schnell mal den „Besitzer“ wechselt.
All ihre Wege kreuzen sich mal hier, mal da. Vorherige Geschichten werden wieder aufgegriffen oder finden Erwähnung. So ergibt sich trotz enormer Vielfalt der 14 Storys ein roter Faden, der sich kilometerweit durch die Eislandschaft zieht. Von Station zu Station zu Station… bis hin zu den zwei Konkurrenten, die sich gegenseitig beim Bau eines Luxus-Scheißhauses übertreffen wollen.
Neben einem knappen Vorwort vom ursprünglichen Autor Jørn Riel findet sich zu Beginn des Buches noch eine nützliche Karte, in die die Standorte der verschiedenen Stationen und deren Besatzung eingetragen sind. Äußerst hilfreich, um die einzelnen Erzählstränge zu verorten.
Jäger, Trapper, Eisbärfänger
Tatsächlich muss man sich erst ein wenig einlesen. Zum einen, damit man sich mit der entschleunigten Erzählweise anfreunden kann, und zum anderen, damit man die Mentalität der Charaktere versteht. Diese mögen nämlich auf den ersten Blick verschroben und seltsam sein, sind aber so interessant ge- und beschrieben, dass man als Leser neugierig wird. Man möchte mehr wissen. Mehr über ihre Gedanken, Eigenarten, Sehnsüchte der Männer im selbstgewählten Exil. Und ehe man sich versieht, wird man Teil dieser sonderbaren, auf ihrer ganz eigenen Art herzlichen Truppe. Die Sitten mögen rau sein, die Manieren irgendwo unter dem Eis versauern und Herr Knigge würde wohl gleich zweimal um 180 Grad im Grabe rotieren (womit er immerhin wieder richtig liegen würde…), aber genau das macht „Grönland Odyssee“ aus.
Einst von Jørn Riel, einem dänischen Bestseller-Autor, in Buchform verfasst, drehen sich dessen meiste Erzählungen und Romane um die größtenteils eisbedeckte Insel. Kein Wunder, war Riel doch Anfang der 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts selbst Teil einer Expedition, bei der der ausgebildete Funker und Navigator meteorologische Untersuchungen durchführte. Insgesamt 16 Jahre lebte er auf Grönland und nutzte die Zeit, um Geschichten zu schreiben. Auch auf anderen Kontinenten war der Weltenbummler unterwegs, doch sein Herz verschenkte er an die Arktis. Über 40 Romane und Erzählungen beweisen, dass er mit seinen Geschichten über Jäger und Fallensteller, Fabeln und Märchen für Kinder Menschen jeden Alters erreicht. Eine Gesamtauflage von über einer Million spricht ebenfalls Bände.
Der Comic-Autor und -Zeichner Hervé Tanquerelle hat sich gemeinsam mit dem französischen Künstler Gwen De Bonneval zusammengetan, um Riels humorvolle und bärbeißige Geschichten aus der kühlen, rauen Wildnis zu adaptieren. Insgesamt 14 an der Zahl, die sich auf 376 Seiten verteilen. Damit bekommt der geneigte Leser ein ebenso dickes wie hochwertiges Hardcover vom Avant-Verlag auf die Theke geknallt, das gleich für mehrere Tage in die Hütten der chaotischen, in ihrer eigenen Welt lebenden Zweckgemeinschaften einlädt.
Der Reiz des Überschaubaren
Alle Geschichten sind in schwarz/weiß/grau, was auch vollkommen in Ordnung geht. Wenn sie nicht gerade durch den weißen Schnee stapfen, sitzen die feinen Herren eh meist im Halbdunkel ihrer Hütten, weshalb der Farbverzicht auch irgendwie klaustrophobische Enge in den Innenräumen erzeugt. Dadurch, dass die kleinen Behausungen kaum Rückzug und Privatsphäre bieten, entwickelt sich schnell das Gefühl eines Kammerspiels. Dies gefiel mir vor allem deshalb, weil Zeichner Tanquerelle trotzdem Abwechslung liefert. Unterschiedliche Blickwinkel, abwechselnder Fokus auf die Gesprächsteilnehmer, Gedankenblasen, Rückblicke und so weiter. Es ist wie bei einem Film, der nur an einem Ort oder in einem Raum spielt. Dort müssen Drehbuch und Schauspieler derart herausragend sein, dass eine 90-minütige Handlung nur durch sie getragen und glaubwürdig rübergebracht wird. Ich muss mich komplett auf die Charaktere einlassen können, ohne das limitierte Drumherum wahrzunehmen oder mich im schlimmsten Fall gar gelangweilt zu fühlen. Bestes Positiv-Beispiel: „Der Leuchtturm“ (2019). Und genau DAS schafft Tanquerelle in „Grönland Odyssee“ in jeder einzelnen Erzählung.
Natürlich spielen sich die Handlungen nicht nur innerhalb der rustikalen Unterkünfte ab, sondern auch unter freiem Himmel. Hier sind die Zeichnungen mit frankobelgischem Charme sehr gelungen und es geht durchaus abenteuerlich und rasant zu. Beispielsweise bei einem Katz-und-Maus-Spiel auf Leben und Tod mit einem Eisbären, das zu einer Carpenter’schen Belagerung mit kuriosem Finale ausartet.
Fazit:
Nach Tanquerelles hervorragendem Reisebericht „Grönland Vertigo“, bei dem er seine eigenen Expeditions-Erfahrungen mit uns teilte, erzählt er uns nun Jørn Riels skurrile Geschichten, die trotz frostiger Kälte herzerwärmend, abenteuerlich und auch so bizarr sind, dass sie einfach nur wahr sein können… oder?
Hervé Tanquerelle, Jørn Riel, Gwen de Bonneval, Hervé Tanquerelle, Avant
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