Monotonie einer Entführung
111 Tage…
Christophe André, Mitarbeiter der Hilfsorganisation für medizinische Nothilfe „Ärzte ohne Grenzen“, ahnt nicht, was ihm bevorsteht, als er sich in der Nacht vom 1. Auf den 2. Juli 1997 ins Bett legt. Er ahnt nicht, dass ihn Stunden, Tage, Wochen… sogar Monate voller Ungewissheit, Zweifel, Angst und Eintönigkeit erwarten.
In Inguschetien, einer kleinen russischen Republik, westlich von Tschetschenien, schläft der nichts ahnende André allein in einem Nebengebäude seiner Organisation als das gewaltsame Öffnen seiner Zimmertür und das Wort „Milicia!“ ihn zum einen, unsanft aus dem Schlaf reißen und zum anderen, sein Leben für immer verändern werden. Mehrere bewaffnete Männer stürmen ins Zimmer und überwältigen den ahnungslosen und überraschten Mann. Wortlos wird er in ein Auto verfrachtet und eine ungewisse Fahrt in die Nacht beginnt. André, der für Finanzen und Verwaltung verantwortlich ist, geht zu diesem Zeitpunkt noch von einem Raubüberfall aus. Je länger die Fahrt, die durch einen zwischenzeitlichen Fußmarsch unterbrochen wird, dauert, desto klarer wird ihm, dass seine Entführer es nicht auf das Geld der Organisation abgesehen haben… oder sie wissen es einfach nicht besser. Sie wissen nichts von dem Safe und dem passenden Schlüssel in Andrés Hosentasche. Es muss einen anderen Grund geben.
Christophe Andrés Gedanken überschlagen sich und bei dem Versuch rational zu denken, sich der surrealen Situation, in der er sich befindet anzupassen und diese so greifbar zu machen, kommt er zur einzig logischen Schlussfolgerung: Er wurde gezielt entführt.
Am Zielort angekommen wird das überforderte Opfer in ein kleines, spartanisch ausgestattetes Zimmer gesperrt. Auf einer Matratze liegend beginnt so ein psychisches Martyrium, dessen Ausgang zu diesem Zeitpunkt ungewiss ist. Die Hoffnung auf eine schnelle Freilassung hält André in den ersten Tagen davon ab durchzudrehen. Doch je mehr Tage verstreichen, je mehr zahllose Stunden in seinem kahlen Verlies vergehen und deren monotone Abläufe an dem Entführten nagen… je mehr ihn die zermürbende Ungewissheit über sein Schicksal an die Grenzen zum Wahnsinn zu drängen droht, umso mehr kämpft Christophe André gegen diese übermannenden Gedanken an. Denn egal, wie lange es dauern wird: Er gibt nicht auf. Sein Leben endet nicht hier. Nicht in einer Zelle. Nicht verschleppt von Separatisten. Nicht als „Geisel“.
…dokumentiert von einem Künstler…
Bereits 15 Jahre vor der Veröffentlichung von „Geisel“ wurde die Idee geboren, Christophe Andrés wahres Schicksal auf Papier zu bannen. Der kanadische Künstler Guy Delisle, dessen Ehefrau ebenfalls bei der NGO (Nichtregierungsorganisation) „Ärzte ohne Grenzen“ tätig ist, erwähnt André erstmals in seinem dokumentarischen Reisebericht „Shenzhen“ aus dem Jahr 2000 (2005 ebenfalls bei Reprodukt erschienen). Bei einem gemeinsamen Abendessen wird die Idee geboren, die außergewöhnliche Geschichte in Comicform zu präsentieren. Delisle wagt sich hier, im Gegensatz zu seinen bisherigen, biografischen Geschichten, auf neues Terrain.
Aus der Ich-Perspektive lässt er uns hautnah an den Erfahrungen des verschleppten Mannes teilhaben, die in skizzenhaften Zeichnungen ebenso spartanisch daherkommen, wie die Einrichtung des improvisierten Verlieses. Detailarm und in trister, unterkühlter Farbgebung werden so die klaustrophobische Enge und die Einsamkeit auf den Leser übertragen. Delisle lässt sich bei der Erzählung extrem viel Zeit und durch die limitierten, sich stetig wiederholenden Bilder, die die Tristesse im Alltag des Gefangenen widerspiegeln, stellt sich beim Lesen ein andauerndes, sich ständig steigerndes Gefühl von Unbehagen ein. Die quälende Hoffnung auf Befreiung fängt an, der Verzweiflung zu weichen und die tägliche Routine wird zum Kampf. Aufgeben ist keine Option für André und seine Methoden, sich durch die gedankliche Aufzählung historischer Schlachten der drohenden Panik zu entziehen, werden visuell gekonnt eingefügt.
Man kommt nicht umher, sich im Laufe des Buches die Frage zu stellen, wie man selber in dieser Ausnahmesituation handeln würde. Resignieren? Fliehen? Durchdrehen? Möglichkeiten gäbe es genug, doch würden sie alle die Ausgangssituation nicht verändern. Du bleibst eingesperrt. Eingesperrt in einem kleinen Raum, dessen Wände Tag für Tag näherzukommen scheinen. Irgendwann erdrücken sie dich. Ein Auf- und Abgehen während des Schlürfens der ewig gleichen Gemüsebrühe bilden für dich den Höhepunkt des Tages. Du zählst die Tage und hoffst bei jedem nächtlichen Geräusch, dass deine Leute dich endlich holen kommen. Du malst dir aus, dass die Behörden alle möglichen Hebel in Bewegung gesetzt haben müssen. Sie müssen einfach! Doch es passiert nichts… Aufwachen, hoffen, Gemüsebrühe, gegen den eigen Geist ankämpfen, schlafen. Tag für Tag für Tag…
Ein gemütliches Leseerlebnis auf der Couch sieht anders aus, aber Guy Delisle schafft es Seite für Seite, dass man Christophe André nicht im Stich lässt. Man möchte ihm beistehen, Mut zusprechen. Man möchte sehen, miterleben, wie er seinem Status als „Geisel“ ein Ende bereitet.
…auf 432 Seiten.
Einen auf den ersten Blick simplen Plot auf einen derart beachtlichen Umfang zu strecken, bedarf schon einiges an Geschick, um den Leser nicht zu langweilen. Dieses Kunststück gelingt Guy Delisle mühelos und mit jedem weiteren Fortschreiten in der Geschichte wird die Spannungsschraube angezogen. Der Leser weiß, dass Christophe Andrés Geiselhaft 111 Tage andauert und mit jedem Blick auf die Kapitelnummerierung wird klar, dass wir uns dem Finale nähern. Als besonderer Kniff sind die Kapitel in „Geisel“ nämlich nicht fortlaufend nummeriert, sondern beziffern die Tage, die sich der Gefangene in der Hand der tschetschenischen Separatisten befindet. Dadurch entstehen auch hin und wieder Sprünge zwischen den Kapiteln, denn jeden Tag ausgiebig zu beleuchten, hätte den eh schon ausgedehnten Rahmen deutlich gesprengt.
Der Verlag Reprodukt veröffentlicht Guy Delisles „Geisel“ als Taschenbuch (16,5 x 24,5 cm) mit Klappenbroschur auf erfreulich dickem Papier, was das Mammutwerk mit seinen 432 Seiten zu einem ansehnlichen Klopper macht. Neben dem bereits erwähnten „Shenzhen“ sind dort ebenfalls seine viel beachteten Reisedokumentationen „Aufzeichnungen aus Birma“, „Aufzeichnungen aus Jerusalem“ und „Pjöngjang“ erschienen.
Fazit:
„Geisel“ hat mich erzählerisch umgehauen, keine Frage. Ein intensives Leseerlebnis, das die Spannung ins Unermessliche steigert und durch seinen rational agierenden Hauptcharakter ein realistisches und nachvollziehbares Bild vermittelt. Da es sich um einen Tatsachenbericht handelt, ist dies natürlich der Idealfall und glücklicherweise wurde auf künstliche Übertreibungen verzichtet, die man als dramaturgische Zutat problemlos hätte beimischen können. Eine spannende Erfahrung, in die man persönlich nie geraten möchte. Dank der packenden Erzählung von Guy Delisle und den persönlichen Einblicken von Christophe André ist man als Leser aber schon verdammt nah dran.
Guy Delisle, Guy Delisle, Reprodukt
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