Mich dünkt, des Knaben Hormone entfleuchen durchs Dachgebälk
Casanova Milchbart Jr.
Der kränklich-blasse Sébastien ist das Sorgenkind der reichen Adelsfamilie Valmont. Von epileptischen Anfällen geplagt, ist die Erwartungshaltung an ihn, von Seiten der Eltern, eh schon im Keller. Auch ohne Krankheit hätte der Junge einen schweren Stand, da er als Nachzügler das Nachsehen gegenüber seinen älteren Geschwistern hat. Da den reiferen Brüdern die Pflichten der Fortbestandssicherung der Familie quasi in die Wiegen gelegt wurden, war das spätere Erbe für Sébastien eh schon vom Tisch, weil dieses dem Erstgeborenen versprochen ist… und auch militärische und kirchliche Laufbahnen waren schon an seine Brüder vergeben. Somit befindet der Junge sich in den Augen der „liebenden“ Eltern nicht nur im Keller, sondern im Keller des Kellers. Fest davon ausgehend, dass Sébastiens knochige Ellbogen, die an seinen schmalen Schultern bommeln, über keine durchsetzungsfähigen Argumente verfügen würden, verweilt der Knabe in der Obhut seiner bemutternden… ja… Mutter. Hinzu kommen noch die drei Grazien, die sich Schwestern schimpfen.
Als die Comtesse de Senanges, eine Freundin von Sébastiens Mutter, das elterliche Anwesen besucht, um eine Heirat zwischen ihrem Sprössling und Françoise-Marguerite, der ältesten Tochter der Valmonts, einzutüten, klopf mal kurz die Pubertät an den obersten Knopf des Adelssprosses Beinkleid. Nachdem Sébastien (mal wieder) getürmt ist, um der mütterlichen Fürsorge zu entfliehen und im angrenzenden Wald Insektenkunde zu betreiben, liest die Comtesse den Flüchtling bei ihrer Heimreise auf. Kurzerhand nimmt sie ihn mit in ihrer Kutsche. Eingeschüchtert und gleichzeitig angezogen von der bildschönen Dame, mit der verführerischen Stimme und den einladenden Rundungen, verspürt der unschuldige Bursche erstmalig wohlige Wärme in unteren Regionen. Die Comtesse ist sich ihrer Wirkung auf den Jüngling durchaus bewusst, gibt ihm aber zu verstehen, dass es noch etwas Zeit braucht, bis er sein innerstes Verlangen zu verstehen vermag.
Um die anstehende, nicht ganz uneigennützige Heirat zwischen den Heranwachsenden zu besiegeln, richtet Madame de Senanges einen Ball aus, der die Valmont-Tochter zudem in die Gesellschaft einführen soll. Nicht ganz uneigennützig deshalb, weil die Comtesse eine Finanz-Spritze der Valmonts ganz gut gebrauchen könnte und das Valmont-Oberhaupt sich durch eine Heirat ein höheres Ansehen in feinsten Kreisen erhofft. Dort trifft Sébastien erneut auf die Frau, die sein Herz während der Kutschfahrt zum beben brachte… und nicht nur dieses. Ihr Zusammentreffen ist allerdings nicht romantischer Natur. Besser gesagt, platzt Sébastien in ein spontanes Tête-à-Tête zwischen der Comtesse und seinem eigenen Vater. NOCH besser gesagt, erwischt der Junge die beiden, als die Comtesse gerade Daddys adeliges Gestänge poliert.
Von Valmont zurückgewiesen, der angeblich bereits eine neue Maitresse am Start hat und offenherzig zugibt, nur eine Liaison eingegangen zu sein, um sich mit Namen und Ruf der Comtesse zu schmücken, ergreift die enttäuschte Dame die Gelegenheit und schnappt sich den Sohnemann, der dem ganzen Dialog als Ohrenzeuge zugegen war. So beginnt eine „gefährliche Liebschaft“, die selbstverständlich nie an die Öffentlichkeit geraten darf. Die Comtesse de Senanges führt Sébastien in die Kunst der Liebe ein und die beiden verbringen zahlreiche intime - jedoch geheime - Stunden miteinander. Ende.
Nein… natürlich nicht! Das Gefühlchaos beginnt nämlich erst richtig, als die lüsterne Lady die Valmonts für einige Tage im Spätsommer besucht… im Schlepptau ihre bezaubernde Nichte Adélaïde, die gerade erst frisch und jungfräulich aus einem Kloster kommt. Bühne frei für den jungen Prinz Charming in Ausbildung.
Eiskalt und verdorben
Mit „Vorspiel: 1. Hoffnung und Eitelkeit“ wird die Vorgeschichte des französischen Welterfolgs „Gefährliche Liebschaften“ aus dem Jahr 1782 erzählt. „Les Liaisons dangereuses“, wie der in 175 Briefen verfasste Roman ursprünglich heißt, stammt vom Autor Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos und vertieft die Eroberungsversuche des erwachsenen Vicomte Sébastien de Valmont, welcher die unbefleckte Cécile de Volanges im Auftrag der intriganten Marquise de Merteuil verführen soll. Diese wurde von ihrem Liebhaber verlassen, der gedenkt, das naive Mädchen aus der Klosterschule zu ehelichen. Für den unwiderstehlichen Herzensbrecher Valmont scheint dies eine nur allzu leichte Aufgabe und er hat sich – als selbst auferlegtes Eroberungsziel - mit der tugendhaften UND verheirateten Madame de Tourvel eine Nuss ausgesucht, die vorgewarnt scheint und nicht so leicht zu knallen… äh, knacken ist.
Rokoko & Co.
Der damalige Skandalroman, der gesellschaftskritisch die unsittlichen und lasterhaften Ausschweifungen des französischen Adels thematisiert, gehört heute zu den Klassikern der Weltliteratur. Bereits unzählige Male wurde das Werk für große Theaterbühnen adaptiert und sogar ein Musical beruht auf der berühmten Vorlage.
1959 erfolgte eine erste Verfilmung des Stoffes, die die Handlung in die damalige Gegenwart der 50er-Jahre verlegte. Mit Gérard Philipe und Jeanne Moreau in den Hauptrollen, gelang der französischen Schauspielerin mit der Rolle der Juliette de Merteuil der schauspielerische Durchbruch. In insgesamt über 120 Produktionen war sie bis zu ihrem Tod 2017 zu sehen, darunter „Die Ausgebufften“ mit Gérard Depardieu oder Luc Bessons Kultfilm „Nikita“ von 1990.
Noch hochkarätiger besetzt war die englisch-amerikanische Ko-Produktion „Dangerous Liaisons“ von Regisseur Stephen Frears („High Fidelity“, „Die Queen“) aus dem Jahr 1988. In der werkgetreuen Rokoko-Epoche agierten hier namhafte Stars, wie Glenn Close („Das Messer“, „Eine verhängnisvolle Affäre“, „Das Geisterhaus“), John Malkovich („In the Line of Fire“, „Con Air“, „R.E.D.“), Michelle Pfeiffer („Scarface“, „Batmans Rückkehr“, „Schatten der Wahrheit“), Uma Thurman („Pulp Fiction“, „Gattaca“, „Kill Bill“) und Keanu Reeves („Bram Stoker’s Dracula“, „Speed“, „Matrix“). Ein Traum-Cast, der dem Film drei Oscars und vier weitere Nominierungen einbrachte.
Eine weitere erwähnenswerte Verfilmung, die die Handlung in die Jetzt-Zeit verlegte, ist das 1999er-Drama „Eiskalte Engel“ (im Original: „Cruel Intentions“) von Roger Kumble. Neben dem großartigen Soundtrack, auf dem unter anderem Placebo, The Verve, Faithless, Fatboy Slim und Blur vertreten waren, glänzte der Streifen mit Hollywoods heißester Newcomer-Riege. Neben Sarah Michelle Gellar („Buffy – Im Bann der Dämonen“, „Scooby-Doo“, „Der Fluch – The Grudge“), Ryan Phillippe („Ich weiß, was du letzten Sommer getan hast“, „The Way oft he Gun“, „Startup“), Reese Witherspoon („Sweet Home Alabama“, „Walk the Line“, „Wasser für die Elefanten“) und Selma Blair („Hellboy“, „The Fog“, „Anger Management“) stand mit Swoosie Kurtz auch eine Darstellerin vor der Kamera, die bereits in Stephen Frears Adaption von 1988 zu sehen war. Die beiden Direct-to-DVD-Produktionen „Eiskalte Engel 2“ – ein inhaltlicher Vorgänger – und die Fortsetzung „Eiskalte Engel 3“ haben nur noch sehr wenig (bis überhaupt nichts) mit der Vorlage zu tun.
Oh, du skandalöse Dekadenz im prunkvollen Gewand…!
Der kanadische Künstler Djief („Broadway“, „White Crows“) – bürgerlich Jean-François Bergeron – liefert im „Vorspiel“ Bilder ab, dass es mich fast aus meinem Rüschen-Kleidchen geschossen hätte. Mit liebevollen Details schafft er es, das Ancien Régime lebendig erscheinen zu lassen, was besonders bei aufwendigen Innenausstattungen und Gebäudeverzierungen ins Auge fällt. Die Mimik der Charaktere könnten in wenigen Fällen etwas feiner herausgearbeitet sein, geht im Großen und Ganzen aber völlig in Ordnung. Ein Detail, das nur für diejenigen wichtig sein dürfte, die das gekräuselte Haar in der Suppe suchen. Auch farblich hält man sich mit erdigen Tönen dezent zurück, was sehr angenehm und authentisch erscheint. Isabelle Merlet hatte bei der Kolorierung genau das richtige Händchen, sodass dezente und zeitgemäße Farb-Akzente dominieren. Durch das große Format der Hardcover-Ausgabe kann man sich auch an den kleinsten Panels erfreuen und muss die zahlreichen Kleinigkeiten, die sich dort verstecken, nicht mit der Lupe suchen. Die Panel-Größe variiert sowieso sehr stark und so bietet jede einzelne Seite mehr Inhalt, als vergleichbare Werke. Obwohl seht textlastig, eine absolute Augenweide, die nicht durch die Sprechblasen überlagert wird.
Der Franzose Stéphane Betbeder zeichnet sich für die Geschichte verantwortlich. Betbeder gehört zu den gefragtesten Comic-Szenaristen seines Landes, was er auch mit dem grandiosen „Dr. Watson“, der „Alice Matheson“-Reihe und aktuell „Broceliande – Der Wald des kleinen Volkes“ immer wieder unter Beweis stellt. Das zweiteilige „Vorspiel“ zu „Gefährliche Liebschaften“ steht dem in nichts nach und überzeugt durch ein wendungsreiches und lasterhaftes Sittengemälde des französischen Hochadels des 18. Jahrhunderts.
Ein besonderes Lob noch an die deutsche Übersetzung von Swantje Baumgart. Sie schafft es, den schwülstigen Ton der gepuderten Schickimicki-Gesellschaft gekonnt ins Deutsche zu übertragen, ohne dass es aufgesetzt oder gar lächerlich erscheint. Ja ja… was war das für eine schöne Zeit, als man seine Gefühle noch in Worte packte und nicht mit einem dämlich schielenden Emoji ausdrückte…
Fazit:
Ich bin verzückt und könnte in Anbetracht einer baldigen Fortführung jener illustrierten Novelle frohlocken! Ach käme diese reich bebilderte Pracht doch schon in Bälde durch die Pforte meiner bescheidenen Behausung geschwirrt. Es wäre ein Quell der Freud!
Stéphane Betbeder, Djief, Splitter
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