Text:   Zeichner: Quentin Zuttion

En Garde!

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Marcel Scharrenbroich
8101

Comic-Couch Rezension vonNov 2020

Story

Ein offener und mutmachender Umgang mit häuslicher und sexualisierter Gewalt… und den (sichtbaren und unsichtbaren) Narben, die solche Martyrien hinterlassen.

Zeichnung

Farblich top, auch wenn die eigentlichen Zeichnungen meist schludrig erscheinen. Die Aquarelle, die auch ohne Outlines gewirkt hätten, sind dafür gekonnt aufs Papier gebracht.

Ohnmacht und Leere

140.755

Eine erschreckende Zahl. Und hinter jeder dieser Zahlen steckt ein Einzelschicksal. Diese Zahl geht aus der Kriminalstatistischen Auswertung zur Partnerschaftsgewalt des Jahres 2018 hervor. Laut Bundeskriminalamt eine Steigerung von 1,3% gegenüber dem Vorjahr. Zur Anzeige wurden unter anderem vorsätzliche und gefährliche Körperverletzung, Nötigung, Stalking, Freiheitsberaubung, Totschlag und Mord gebracht. 114.393 Opfer waren weiblich. Das sind rund 81,27%. Und das allein in Deutschland, bei einer ungefähren Einwohnerzahl von 83 Millionen. Man mag sich ausmalen, dass die Dunkelziffer ungemein höher war und ist. In der aktuellen Pandemie-Situation, bei der Experten schon während des ersten Lockdowns im Frühjahr 2020 steigende Fallzahlen registrierten, möchte man sich nicht vorstellen, wie die Statistik für dieses Jahr einmal ausfallen wird. Doch selbst bei gleichbleibenden Werten wäre es noch immer… eine erschreckende Zahl.

Drei Frauen. Drei Schicksale.

Lucie ist alleinerziehend. Hat den Absprung geschafft und sich von ihrem brutalen Ehemann getrennt. Doch die Erinnerungen verfolgen sie bis in den Schlaf. So sehr, dass sie mit einem Küchenmesser unter dem Kopfkissen schlägt. Zu präsent ist ihr Peiniger. Ein therapeutischer Fechtkurs für Frauen, die Gewalt jeglicher Art erfahren haben, soll Abhilfe schaffen. Eine psychologische Betreuung, spezialisiert auf sexuelle und häusliche Gewalt, ist ebenfalls anwesend, um den Teilnehmerinnen mit Rat und Tat stets beizustehen. Mit noch gemischten Gefühlen trifft Lucie dort auf die lebhafte und aufbrausende Tamara, die sich nach sexuellen Misshandlungen vom eigenen Bruder im Kindesalter auf einem selbstzerstörerischen Weg befindet. Sie lotet Grenzen aus und überschreitet so manche. Nicole hingegen ist das genaue Gegenteil von Tamara. Nicole lebt zurückgezogen mit ihrem Hund, der einzigen treuen Seele in ihrem Leben. Unzufrieden mit sich selbst, hat sie nie Liebe erfahren. Möglichst darauf bedacht unsichtbar zu sein, weiß sie nicht, ob sie jemals in der Lage sein wird, Liebe zu geben oder zu empfangen.

So unterschiedlich diese drei Persönlichkeiten auch sind, so gleich ist ihr Schicksal. Über ein ganzes Jahr soll sich dieser Fechtkurs ziehen. Noch ahnen sie nicht, was dieses gemeinsame Jahr bringen wird. Doch es dauert nicht lange, bis sie merken, dass sie jeder Hieb, jede Parade und jeder Arretstoß stärker macht… und enger zusammenschweißt.

Flèche *

Quentin Zuttion - Zeichner von „Nennt mich Nathan“ (Splitter), geschrieben von Catherine Castro - trifft mit „En Garde!“ in eine Wunde. Eine Wunde, die Frauen auf der ganzen Welt tagtäglich zugefügt wird. Unterschiedlich groß, unterschiedlich tief, doch eines haben diese Wunden alle gemeinsam: Sie hinterlassen Narben. Manche körperlich… doch alle hinterlassen Narben seelischer Natur. Umso wichtiger ist es, mit dem Thema offensiv umzugehen. Dies gelingt Zuttion. Sein „En Garde!“ ist ehrlich, kämpferisch. Zeigt anhand unterschiedlicher Frauen, wie schwer solche Erlebnisse zu verarbeiten sind. Wie schwer es ist, wieder Vertrauen zu fassen. Selbstbewusstsein. Sich selbst wieder zu lieben. Sich zu spüren. Die drei unterschiedlichen Frauen, Lucie, Tamara und Nicole, die sich unter normalen Umständen womöglich nie über den Weg gelaufen wären, gehen gezeichnet, gebeugt und spürbar unsicher in einen Kurs, von dem sie sich anfangs überhaupt nichts versprechen. Nichts, außer Zeitverschwendung. Doch sie erwartet ein lebensveränderndes Jahr. Ein Jahr, in dem sie mehr finden, als sie dachten. Und mit jeder Stunde, mit jedem Gemeinschaftserlebnis, verblassen die Narben mehr und mehr.

Aus den Meldungen vom Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben geht hervor, dass statistisch jede dritte Frau in ihrem Leben Gewalt erfährt, sich jedoch nur jede Fünfte vertrauensvoll an eine Beratungsstelle wendet. Das Hilfe Telefon „Gewalt gegen Frauen“ bietet seit 2013 unter der Nummer 08000 116 016 kostenlos, anonym und in 17 Sprachen Hilfe jeglicher Art für Betroffene an.

Treffer-Annullierung

Den Zeichnungen hätte ich gerne ein Pünktchen mehr zugedacht, musste dann aber an einer (noch immer anständigen) 7 festhalten. Begründung: Die größtenteils farbenfrohen Aquarelle, welche sich stets der Stimmung anpassen, sind das Highlight des Buches. Besonders die dynamischen Fechtszenen sind klasse in Szene gesetzt. In solchen Momenten verzichtet Quentin Zuttion dann auch auf Fineliner-Outlines, die generell nur grob die Richtung vorzugeben scheinen. Sie scheinen nur dazu zu dienen, um die Farben irgendwie im Zaun zu halten, während in den befreienden Fechtstunden diese Fesseln regelrecht gesprengt werden. Hier brechen die Charaktere heraus, sind frei und nutzen diese Situation, um zu atmen. Zu spüren. Zumindest empfand ich es während der Geschichte so, was sich auch mit der letzten Seite im Buch decken würde. Manche sind freier als andere. Manche können den entscheidenden Schritt nicht gehen, da Faktoren eine Rolle spielen, die außerhalb der eigenen Entscheidungsmacht stehen. Eine aus der Erde gerissene, fleisch- und seelenfressende Pflanze - an der Wurzel allen Übels -, deren Ableger jedoch gerade erst beginnt zu blühen und schützend bewässert werden muss. Ich könnte und WÜRDE gerne deutlicher werden, anstatt hier so herumzuschwurbeln, möchte jedoch ebenso wenig spoilern, wie die eigene Interpretation zu beeinflussen.

Jedenfalls sind das die großen Pluspunkte der optischen Präsentation, auch wenn die eigentlichen Zeichnungen weniger aufwändig erscheinen, als die Kolorierung. So wirkt das Charakter-Design eher, als wäre hier schnell skizziert worden, um mehr Mühe in die Farbgebung zu investieren. Dass er es auch anders kann, beweist Quentin Zuttion beispielsweise in einem Einzelbild, dass die Hauptfiguren in voller Fechtmontur auf Pferden zeigt (Seite 136). Des Weiteren erzeugen viele Bilder eine schöne Tiefenwirkung (Seiten 126 und 152) und auch der gekonnte, nicht selbstverständliche Einsatz von Schatten (Seite 99) belebt das Geschehen ungemein.

Fazit:

Eine einfühlsame und zugleich ehrliche Comic-Erzählung über ein Tabu-Thema, das keines sein sollte. Ganz im Gegenteil! Häusliche und sexualisierte Gewalt gegen Frauen sollte viel mehr in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt werden, sodass es kein Wegsehen mehr gibt. Null Toleranz und härtere Strafen gegenüber den Tätern, damit die Zahl der Vergehen nicht noch weiterwächst und Opfern signalisiert wird, dass ihre Peiniger auch das bekommen, was sie verdienen: Die volle Härte, im Rahmen der gültigen Gesetze. Vor allem aber, um endlich einen Schlussstrich unter die traumatischen Erlebnisse zu ziehen, damit diese finstere Episode hoffentlich irgendwann zu einer Randnotiz verblasst und ein angstfreies, wertgeschätztes und erfüllendes Leben geführt werden kann.

 

 

* (frz. „Pfeil“) Ein schneller, blitzartiger Angriff im Sportfechten.

En Garde!

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