Ein Sommer am Meer
Pubertätsbeginn in 3… 2… 1…
Der dreizehnjährige Antoine teilt sich die Rückbank mit seinem jüngeren Bruder Titi. Vorne sitzen die Eltern der Jungen. Gemeinsam ist man auf dem Weg in den jährlichen Familienurlaub. Als die Mutter plötzlich von der Fehlgeburt ihrer guten Freundin Sylvie erfährt, offenbart sie ihren Söhnen gegenüber, dass sie vor Antoines Geburt ebenfalls ein Baby verloren hatte. Eine fast schon beiläufige Beichte, die den älteren Jungen jedoch sichtlich beschäftigt.
Am Zielort Vannes, in der Bretagne im Nordwesten Frankreichs, angekommen, vertreiben sich die unzertrennlichen Brüder die Zeit mit Zeichnen oder sonnigen Stunden am nahegelegenen Strand… auch hier immer mit dabei, Antoines Stift und Zeichenblock. Turbulent wird es, als Sylvie, die besagte Freundin der Eltern, die erst kürzlich einen schweren Verlust hinnehmen musste, im Örtchen auftaucht und eine gemeinsame Woche im Ferienhaus der Eltern verbringt. Turbulent deshalb, weil Sylvie ihre sechzehnjährige Tochter im Schlepptau hat. Hélène wird kurzerhand – in einer nächtlichen Spontan-Aktion – im Zimmer der Jungen einquartiert, welche nicht schlecht staunen, als sie am nächsten Morgen das schlafende Mädchen erblicken. Bei einem gemeinsamen Strandbesuch entdecken Antoine und Hélène nach anfänglichen Startschwierigkeiten, dass sie auf einer Wellenlänge sind… trotz des dreijährigen Altersunterschiedes. Drei Jahre hören sich wenig an, doch im Teenager-Alter können das Ewigkeiten sein. Obwohl Antoine eher schüchtern ist und es ihm an Selbstvertrauen mangelt, fängt er an der Seite des coolen und hübschen Mädchens an, aufzublühen.
Nach dem Besuch einer Weinprobe erlebt Antoine – dank Hélène, die eine Flasche stibitzt hat – seinen ersten Rausch. Man freundet sich mit der Dorfjugend an, die allerdings deutlich älter als der Junge ist. Obwohl man denken könnte, dass Hélènes Interesse eher den Gleichaltrigen gelten sollte, lässt sie Antoine nicht alleine und nimmt ihn unter ihre Fittiche… nicht nur nach dem kurzen, aber intensiven Besäufnis mit Rotwein. Die beiden werden ein unzertrennliches Gespann und das Mädchen bewundert Antoines fürsorglichen Umgang mit seinem kleinen Bruder Titi, dem sie eine große Zukunft als Frauen-Magnet voraussagt. Kein Wunder, hat der kleine Bursche doch schon mehrere Freundinnen gleichzeitig. So muss es sich also anfühlen, wenn man einen kleinen Bruder hat… Und Antoine fühlt ähnlich. So wäre es also mit einer großen Schwester…
Anders als Tati, der unter „Freundinnen“ noch was ganz anderes versteht als die älteren Anwesenden – was man an seinen kindlich-unwissenden Bemerkungen auch immer wieder heraushören kann - , fängt der Dreizehnjährige an, Gefühle zu entwickeln. Gefühle, die er vorher nicht kannte. Gefühle für Hélène, das tolle und abenteuerlustige Mädchen, das direkt neben ihm liegt und dessen Wärme er spüren kann…
Minimalistische Annäherung
Bereits beim Ballett-Drama „Polina“ bewies der Franzose Bastien Vivès, dass er filigrane Bewegungen beherrscht und mit sparsamen Skizzierungen eine Menge Gefühl übertragen kann. Mit „Eine Schwester“ setzt er diesen Stil gekonnt fort. Jeder schwungvolle Strich sitzt und ist perfekt platziert. Noch mehr als mit „Polina“, trifft der preisgekrönte Künstler hier den richtigen Ton der warmherzigen Coming-of-Age-Geschichte und offenbart überraschend und ehrlich die Gefühlswelt eines Heranwachsenden. Dabei spart er auch explizite Details nicht aus, weswegen die empfohlene Altersempfehlung ab 16 Jahren auch vollkommen nachvollziehbar ist. Auf Farbe wird bei „Eine Schwester“ ebenfalls komplett verzichtet. Die einzigen Kontraste zu den kräftigen schwarz-weiß-Skizzierungen sind die großflächigen Akzente in beige/grau. Trotz des Farbmangels, der allerdings zu keiner Zeit störend empfunden wird, ergibt sich so ein wunderbares und ansehnliches Schattenspiel, welches dem Werk so zusätzlich visuelle Tiefe verleiht.
Ebenso minimalistisch wie Vivès‘ Zeichnungen beginnt auch die zarte Liebesgeschichte zwischen Hélène und Antoine. Die Entwicklung, die der Junge im Laufe der Geschichte durchläuft, beschränkt sich nicht nur auf die körperlichen Aspekte, sondern wird auch noch auf einer anderen Ebene thematisiert. Schon früh im Buch bittet Hélène Antoine um eine Portrait-Zeichnung von ihr, die dem Jungen aber nicht gelingen will. Je weiter seine Entwicklung voranschreitet, je mehr er aufblüht… desto näher kommt er dem perfekten… dem für IHN perfekten Portrait des Mädchens, das er wohl nie mehr vergessen wird.
Ideale Lektüre für den Sommer… und den Winter… und den Rest des Jahres!
Mit „Eine Schwester“ ist Bastien Vivès eine wunderschöne Graphic Novel gelungen, die ich als absolute Wohlfühl-Lektüre bezeichnen würde. Die warmherzige Sommer-Romanze über das Aufblühen und Entdecken der eigenen Sexualität ist ein regelrechter Pageturner, den man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Angesiedelt während der wärmsten Zeit des Jahres, dient der schön gestaltete Hardcover-Band nicht nur als perfekte Urlaubs-Lektüre am Strand, sondern lässt dem Leser auf während der kalten Wintertage warm ums Herz werden. Im Idealfall kombiniert man „Eine Schwester“ mit dem ebenfalls herausragenden Comic-Roman „Ein Sommer am See“ - welcher von Mariko und Jillian Tamaki verfasst wurde und auch im Reprodukt Verlag erschienen ist – und schmeißt anschließend noch die beiden Filme „Vielleicht lieber morgen“ und „Ganz weit hinten“ in den Player. Ihr werdet dahinschmelzen und anschließend für mindestens eine Woche das Grinsen nicht mehr aus dem Gesicht kriegen… ganz egal bei welchem Wetter.
Fazit:
„Eine Schwester“ ist bereits 2018 bei Reprodukt erschienen und zählt jetzt schon zu meinen Highlights 2019… besser spät als nie. Ich hätte gerne mehr Feelgood-Lesestoff, der mich so zufrieden zurücklasst. Eine uneingeschränkte Empfehlung!
Bastien Vivès, Bastien Vivès, Reprodukt
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