Wurzeln eines Stammbaums
Bindeglied
Silvano Landi, ein erfolgreicher Schriftsteller, steht kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag. Gleichzeitig steht er vor einem privaten Trümmerhaufen, denn als seine Frau ihn mit ihrer gemeinsamen Tochter verlässt, geht es mit seiner Psyche stark bergab. Verwirrt und unbeholfen wird er an einem Strand gefunden und in eine psychiatrische Einrichtung gebracht. Regelrecht besessen von den Briefen, die sein Urgroßvater Mauro während des Ersten Weltkriegs an seine Familie schrieb, während er in den Schützengräben dem Tod ins Auge blickte, hat Silvano komplett die Orientierung verloren. Und immer wieder blitzt das Bild eines riesigen Baumes vor ihm auf. Immer wieder zeichnet er den kahlen Baum mit seinem wild verzweigten Geäst und den tiefreichenden Wurzeln. Eine unterbewusste Verbindung zu seinem Urgroßvater, in dessen schwersten Stunden ein ähnlicher Baum eine Rolle spielte…
Konzentration bitte!
Mit seinen Arbeiten „Die Welt der Söhne“ und „Besondere Momente mit falschem Applaus“ (beide ebenfalls im AVANT-VERLAG erschienen), bei denen Gipi sowohl als Autor und Zeichner alle Ruder in Händen hält, konnte der italienische Comic-Künstler mich schon zweifach begeistern. „Eine Geschichte“ verfügt über eine ähnliche Faszination, lässt sich allerdings etwas schwerer greifen und einordnen. Die verschiedenen Erzählebenen sind noch stärker verschachtelt, kunstvoll verwoben/verworren und erfordern von Gipis Lesern höchste Aufmerksamkeit. Die nicht lineare Story fordert einen regelrecht dazu auf, des Öfteren hin und her zu blättern. Immer wieder gibt es kryptische Anhaltspunkte, wiederkehrende Motive, die wie Puzzleteile nach und nach ein Bild freilegen. Das wird schon ab Seite 1 klar. Ich brauchte zwei Durchgänge, bis der Nebel des Mysteriösen sich zu legen begann. Ob das nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen ist, kann ich noch nicht sagen… vielleicht nach dem dritten Durchgang, der mit Sicherheit folgen wird.
Wie schon in anderen Werken, nutzt Gipi auch hier wieder verschiedene Zeichenstile. Das hilft ungemein bei der zeitlichen Verortung der Story-Bruchstücke und unterstreicht ebenso die künstlerische Bandbreite von Gian Alfonso Pacinotti, wie Gipi bürgerlich heißt. Grobe, farblose Schraffuren, skizzenhaft und unfertig erscheinend, charakterisieren die labile Psyche der Hauptfigur Silvano. Zarte Striche und warme Aquarelle erinnern an eine vermeintlich heile Realität, während der geistige Ausnahmezustand ihn in seine wahnhafte Scheinwelt treibt. Düster und trostlos, dennoch wunderschön anzusehen, sind die schweren Stunden zu Zeiten des Ersten Weltkriegs, in denen Mauro Landi sich mit dem drohenden Ende konfrontiert sieht. In kongenialer Kombination ergibt sich so ein eigenwilliges Gesamtkunstwerk.
Fazit:
„Eine Geschichte“ ist KEINE Geschichte, die man mal so nebenbei wegliest. Dafür ist das Erzählte zu komplex und verschachtelt. Schenkt man Gipi die vollste Aufmerksamkeit, bekommt man ein eindrückliches und ebenso forderndes Geflecht aus verborgenen Erinnerungen, Wahn und verworrener Familiengeschichte geboten.
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