In the Summertiiiime, dee dee dee dee – deee… *
Hurra, endlich Ferien!!!
Der Sommer ist da und wie jedes Jahr verschlägt es die junge Rose und ihre Eltern nach Awago Beach, einen kleinen kanadischen Ferienort direkt am See. Dort sieht sie auch ihre Ferien-Freundin Windy (die eine erschreckende Ähnlichkeit mit der Zeichentrick-„Heidi“ aus der alten TV-Serie aufweist. Verwandt? Geklont? Man wird es wohl nie erfahren.) wieder, die dort mit Mutter und Großmutter ebenfalls regelmäßig die warme Zeit des Jahres verbringt. Direkt zieht es Rose und ihre eineinhalb Jahre jüngere Freundin an den Strand, wo von den voneinander getrennt verbrachten Monaten bereits nach kürzester Zeit nichts mehr zu spüren ist. Die Mädels scheinen direkt wieder auf einer Wellenlänge zu sein und es wird in Erinnerungen geschwelgt und über Jungs geplaudert. Mit Leckereien versorgt man sich im örtlichen Drugstore. Dort fällt Rose auch der ältere Duncan auf, der dort hinter dem Tresen steht und jobbt. Auch seine Clique (nennt man das heute noch so? Gott… fühl‘ ich mich gerade alt!) verbringt ihre Freizeit gerne mal vor, oder in dem Laden. Rose wirkt interessiert an dem Treiben der Jugendlichen… und auch an Duncan. Es deutet sich an, dass sie auf dem Weg ist, den unschuldigen Pfad der Kindheit zu verlassen. Im Gegensatz zu ihrer quirligen Freundin Windy fährt Rose auf der Überholspur Richtung Pubertät, was immer dann durchblitzt, wenn die problembehaftete Dorfjugend zugegen ist. Problembehaftet deswegen, weil eines der Teenie-Mädchen, Jenny, schwanger zu sein scheint… von Duncan. Diese „Niete“ – wie die vorlaute Windy ihn gerne nennt - scheint sich allerdings vor der Verantwortung zu drücken, was nicht gerade für seinen Charakter spricht und die schüchterne Rose mit gemischten Gefühlen erfüllt.
Die Tage im idyllischen Awago Beach plätschern dahin und die beiden Mädels verbringen ihre Abende mit dem Anschauen von DVDs, die sie regelmäßig im Drugstore leihen. „The Texas Chainsaw Massacre“, „Freitag der 13.“, „A Nightmare on Elm Street“… was junge Mädchen halt so schauen… wenn auch meist mit der Decke über dem Kopf. Doch Rose‘ Gedanken drehen sich nicht nur um die Machenschaften der Teenager. Auch in den eigenen Wänden kriselt es gewaltig. Ihre Mutter verhält sich abwesend und desinteressiert gegenüber allen Tätigkeiten. Rose‘ sichtlich bemühter Dad versucht alles, um seine Frau zu animieren, doch scheitert kläglich und nimmt sich schließlich desillusioniert eine Auszeit. Die pubertierende Rose sieht die Ehe ihrer Eltern in Scherben zerfallen.
Der Sommer ist noch nicht vorbei und wird noch einige Erkenntnisse zu Tage fördern. Eines steht jedoch bereits jetzt fest: Im nächsten Jahr wird einiges anders sein…
DIE perfekte Sommer-Lektüre
„Ein Sommer am See“ ist das Gemeinschaftswerk der kanadischen Cousinen Mariko und Jillian Tamaki. „This One Summer“, wie das Buch im Original heißt, gewann unter anderem den Eisner- und den Ignatz-Award. Und womit? Mit Recht! Selten las ich eine sympathischere, einfühlsamere und authentischere Geschichte über das Erwachsenwerden. Mit viel Einfühlungsvermögen erzählt Mariko Tamaki eine Geschichte, die durch ihr idyllisches Setting, ihre liebenswerten Charaktere und auch durch ihre realistischen Schicksale – mit allen Höhen und Tiefen – zum Weiterlesen animiert und deren charmanten Sog man sich nur schwer entziehen kann. Die eher schüchterne Rose, die durch den pubertätsbedingt steinigen Gefühls-Irrgarten auf dem Weg zur Reife taumelt, und mit Sorge auf die elterlichen Probleme blickt und ihre kindlich-naive Freundin Windy, deren ansteckende Unbekümmertheit man einfach lieben muss, harmonieren blendend und lassen den Leser diesen unvergesslichen Sommer durch ihre Augen miterleben. Mariko Tamaki scheint ihr liebenswertes Mädchen-Gespann sehr am Herzen zu liegen, was man als Leser sofort bemerkt, scheut sich aber auch nicht, ernste Themen, wie Depressionen, Unsicherheit und unerfüllte Kinderwünsche anzusprechen. Hier wird nichts verharmlost, oder durch die rosa-rote Brille geschildert… die Gedanken und Handlungen der Heranwachsenden sind real, ob sie schön sind oder nicht… ebenso wie die familiären Probleme, gesehen aus der Sicht eines jungen Mädchens. Tamaki schafft das Kunststück, all diese Elemente einzubauen, ohne anzuklagen, oder den moralischen Zeigefinger zu schwingen. Nein, das hat „Ein Sommer am See“ zu keiner Zeit nötig und ist ein weiterer Pluspunkt, der diese wunderschöne Geschichte strahlend aus der Masse an Coming-of-Age-Erzählungen herausstechen lässt. Und wenn wir schon bei Pluspunkten sind…
Jillian Tamaki fängt mit ihren Illustrationen die schriftliche Vorlage ihrer Cousine perfekt ein. Man muss schon ziemlich genau auf einer Wellenlänge liegen, um solch ein harmonisches Gesamtkunstwerk abzuliefern. Dass hier Hand-in-Hand gearbeitet wurde, merkt man sofort. Das wohlig-warme Sommergefühl, das das urige Awago Beach versprüht, überträgt sich mit jedem gekonnt gesetzten Strich. Die unaufdringliche, bläuliche Kolorierung weht dem Leser eine abendliche Brise ins Gesicht und lässt das Rauschen des Sees in der Ferne erahnen. Jillian Tamakis Zeichnungen sind nicht perfekt, keine Meisterwerke… aber, das müssen sie auch gar nicht. Ihre – im positiven Sinne – naive Bildsprache spiegelt die Akteure wieder, wie sie sind: unsicher, zerbrechlich und unschuldig. Die ausdrucksstarke Mimik, oder fließend-dynamische Bewegungsabläufe beweisen aber, dass eine Künstlerin am Werk war, die ihr Handwerk versteht. Mehr noch… eine Künstlerin, die die Geschichte und ihre Charaktere versteht.
Das mehrfach ausgezeichnete „Ein Sommer am See“ erschien bereits 2015 im Reprodukt Verlag als Taschenbuch (Klappenbroschur).
Fazit:
Atmosphärische Wohlfühl-Lektüre, die auch den Blick auf die ernsten Seiten des Lebens nicht verwehrt. Ein mit 320 Seiten sehr ambitioniertes und umfangreiches Werk, das allein zeichnerisch drei Jahre in Anspruch nahm und nur schwer aus der Hand zu legen ist. Ich las das Buch in einem Rutsch und nach der letzten Seite wünschte ich mir seufzend, dass der „Sommer am See“ noch länger andauern würde… und das sage ich als jemand, der die Wintermonate den heißen Tagen eindeutig vorzieht.
Mariko und Jillian Tamaki ist eine Graphic Novel gelungen, die sich einen festen Platz auf meinem Coming-of-Age-Siegerpodest gesichert hat. Neben den filmischen Beiträgen „Vielleicht lieber morgen“ und „Ganz weit hinten“ findet sich mit „Ein Sommer am See“ nun auch ein gedruckter Beitrag unter den strahlenden Siegern. Ein Meisterwerk, das sich seinen Platz redlich verdient hat.
(* …und jetzt versucht mal, den Ohrwurm wieder loszuwerden.)
Mariko Tamaki, Jillian Tamaki, Reprodukt
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