Ich möchte ein Spiel spielen…
Lovecraft-Legacy
Ziemlich genau 83 Jahre nach dem Ableben des umstrittenen Autors, sind die albtraumhaften Ergüsse von Howard Phillips Lovecraft (1890 – 1937) scheinbar präsenter – und auch populärer – denn je. Mit „Der Hund und andere Geschichten“ – eine Erzählung, die bereits 1922 zu Papier gebracht und zwei Jahre später im Pulp-Magazin Weird Tales veröffentlicht wurde – erfuhr die erste Short-Story, die das sagenumwobene Necronomicon erstmals erwähnte, im vergangenen Jahr ein Revival. Und zwar in Comic-Form. Der Mangaka Gou Tanabe adaptierte und zeichnete Lovecrafts Geschichte in eindringlichen schwarz-weiß-Bildern. Kein One-Shot, sondern der Auftakt einer ganzen Reihe von Adaptionen des amerikanischen Schriftstellers. Noch in diesem Jahr, 2020, steht aus dem Carlsen Verlag der erste Teil von „Berge des Wahnsinns“ auf dem Programm.
Jenes Werk, welches Filmemacher Guillermo Del Toro vor rund zehn Jahren auf die große Leinwand bringen wollte, jedoch ebenso groß scheiterte. Keine Seltenheit bei dem Hollywood-Regisseur, der gerne mal Projekte ankündigt, deren Finanzierung überhaupt noch nicht gesichert sind. Selbst nach dem Erfolg von „Shape of Water“ blieb es bis heute still um die „Berge des Wahnsinns“. Immerhin gibt es Hörbücher und sogar ein Brettspiel zur 1931 verfassten Horrorgeschichte… und bald auch einen Manga. Für Anfang 2021 ist bereits eine Umsetzung von „Der leuchtende Trapezoeder“ angekündigt. Eine weitere populäre Geschichte des Autors erschien erst kürzlich… und das gleich in zwei verschiedenen Medien.
Zum einen widmete sich Gou Tanabe der 1927 geschriebenen und veröffentlichten Erzählung „Die Farbe aus dem All“ in Manga-Form (ebenfalls Carlsen) und ist einzig richtig mit der „Farbe“, die sich jeder menschlichen Beschreibung verwehrt, umgegangen, indem er sie NICHT versuchte darzustellen. Er beließ es bei schwarz-weißen Zeichnungen und bewahrte so das Mysterium des unerklärbaren Farbspektrums. Anders verhielt es sich mit der filmischen Umsetzung, die dieser Tage erst fürs Heimkino erschien…
Der Film von „M.A.R.K. 13 – Hardware“-Regisseur Richard Stanley kann zwar mit Darstellern wie Nicolas Cage und Joely Richardson („Event Horizon“, „Der Patriot“) aufwarten, was die Erwartungen aber nicht in ungeahnte Höhen schrauben sollte. Ex-A-Ligist und Oscar-Preisträger Cage (1996 für „Leaving Las Vegas“), der nicht nur in der Spät-80er-Horrorkomödie „Vampire’s Kiss“ zum psychopatischen Overacting neigte, sondern diese „Kunst“ regelmäßig unter Beweis stellt, mimt auch in „Die Farbe aus dem All“ - als leicht durchgeknallter Familienvater - auf alarmierendem Fremdscham-Niveau… was irgendwie aussieht, als wäre er immer noch in seiner Rolle aus „Mandy“ gefangen. Kleines Beispiel? Cage beschreibt die „Farbe“, die eigentlich jeder Beschreibung trotzt als PINK… rudert im selben Satz aber zurück und behauptet, dass sie sich eigentlich gar nicht beschreiben lasse. Ziemlich dürftig für einen Farbfilm… denn die „Farbe“ ist scheiß PINK… und nichts anderes!!!
So muss man wohl weiter auf eine hochkarätige und adäquate Umsetzung von H. P. Lovecrafts Werken warten, auch wenn es bereits einige Low Budget- und B-Produktionen gibt, die durchaus ansehnlich und unterhaltsam sind. Beispielsweise der Episoden-Horror „Necronomicon“, der kultige „Re-Animator“ oder der unterschätzte „Dagon“, der auf der gleichnamigen Novelle und der Geschichte „Schatten über Innsmouth“ basiert und sich somit schon mal dem legendären Cthulhu-Mythos annähert…
Auch wenn der Titel in der gerade bei Carlsen erschienen Graphic Novel Lovecraft-Fans in Jubel-Stimmung versetzen könnte, möchte ich diese ausgelassene Vorfreude gleich abbremsen… „Ein Jahr ohne Cthulhu“ hat nur indirekt mit Lovecrafts Werk zu tun, sondern integriert lediglich das beliebte Rollenspiel Call of Cthulhu in die Handlung. Aber kein Grund, direkt auf Durchzug zu schalten, denn die Macher der Graphic Novel gehen äußerst liebevoll und behutsam mit dem Mythos um, sodass der Geist H. P. Lovecrafts durchaus durch die Seiten wabert. Wäre der ausgewiesene Rassist, der über seine Haltung auch in seinen Werken und Briefwechseln keinen Hehl machte, menschlich nicht komplett für die Tonne gewesen, hätte er eventuell sogar diebische Freude an „Ein Jahr ohne Cthulhu“ gehabt.
Schatten über Auln-sur-D'Arcq
Erinnert Ihr euch noch an die Tragödie, die sich im Oktober 1984 in besagter Kleinstadt in Frankreich ereignet hat? Vielleicht mal in der Zeitung darüber gelesen? Eine Reportage über die Vorfälle gesehen? Nicht? Nun, das mag vielleicht daran liegen, dass Ihr vielleicht zu jung seid. Noch nicht geboren ward. Oder einfach daran, dass diese nie geschehen sind… Aber vielleicht steckt ja doch ein Körnchen Wahrheit in der Erzählung von Thierry Smolderen, denn der Erlebnisbericht der mutmaßlich Beteiligten klingt einfach zu wild und abgefahren, um dem Kopf eines einzelnen Autors entsprungen zu sein...
Die Teenager-Clique um Samuel, Henri und Marie vertreibt sich die Zeit gerne mit Rollenspielen auf dem örtlichen Friedhof. Nein… nicht DIESE Art von Rollenspielen. Ihr Ferkel. Sie spielen Pen-&-Paper-Rollenspiele. Und wie es sich gehört, vornehmlich zu nächtlicher Stunde. Favorisiert wird dabei ganz klar das Spiel Call of Cthulhu, erstmals 1981 auf den Markt gekommen und angelehnt an das Schaffen von H. P. Lovecraft. Da speziell Samuel und Henri als Unruhestifter bekannt und den bewusstseinserweiternden Stoffen nicht gänzlich abgeneigt sind, sind sie der Bürgermeisterin, die rein zufällig die Mutter ihrer Mitschülerin Oriane ist, schon länger ein Dorn im Auge. Apropos Dorn und Auge: Eines von diesen verlor Oriane bei einem tragischen Zwischenfall, an dem Marie nicht ganz unschuldig war. Seitdem ist Oriane im Glauben, dass sie über gewisse „Fähigkeiten“ verfügt… warum sie ihrer Mitschülerin gegenüber auch nicht sonderlich nachtragend ist.
Frischer Wind kommt in die Klasse der beiden aufsässigen Schüler, als die zugezogene Melusine in den Unterricht platzt. Die Schönheit sorgt umgehend für große Augen und das nicht nur, weil sie zum Einstand abenteuerliches Videomaterial präsentiert. Sie berichtet von ihrem Syrien-Aufenthalt, wo sie mit Forschern an einer Unterwasser-Mission teilnahm, in deren Verlauf sie die Ruinen der versunkenen Stadt Schuruppak fanden. Sehr abenteuerlich, aber belegt. Um ihren Hals trägt Melusine ein mysteriöses Amulett, welches laut Legende versteckte Winkel im Hirn aktivieren kann. Ein Fund aus der versunkenen Stadt, verziert mit undefinierbaren Schriftzeichen. Henri schaltet direkt und bringt das versunkene Reich mit R’lyeh in Verbindung… jene Stadt, die einst den mächtigen Cthulhu beherbergte.
Durch Gespräche über ihre Rollenspiele nähern sich die Jungen Melusine an. Und als die Tochter eines vermeintlichen Druiden auch noch Interesse bekundet, an einer Rollenspiel-Session teilzunehmen, scheint die Sache mehr als geritzt. Es kündigen sich übrigens noch mehr Teilnehmer an, da Samuels früherer Freund Dani plötzlich wieder Kontakt aufnimmt. Waren die beiden früher noch richtig dicke miteinander, brach Dani vor zwei Jahren urplötzlich den Kontakt ab. Ohne nachvollziehbaren Grund. Bei einem Spontanbesuch bei Danis Familie, die den alten Freund direkt wieder herzlich aufnimmt, zeigt der Bursche seinem alten Kumpel, womit er sich die Zeit vertreibt. Dani bastelt an einem Doppelgänger. Einem virtuellen Avatar. Ein Zwilling, der Danis Hirnaktivitäten simuliert, was Samuel schon sehr seltsam und abgefahren vorkommt. Naja, wenigstens steht man nun wieder in Kontakt. Und für den Rollenspiel-Abend hat er ebenfalls zugesagt… Eigentlich will Danis jüngere Schwester Amruta unbedingt hin, aber als großer Bruder springt er gerne als Begleitung ein. Dann steht dem launigen Zusammentreffen eigentlich nichts mehr im Wege… ja… eigentlich…
Ein folgenschwerer Unfall überschattet den Abend. Nicht die einzige Tragödie, die Auln-sur-D'Arcq ordentlich durchrüttelt. Ein blutiges Massaker sorgt für Schockstarre. Nicht zuletzt, weil zwei uns wohlbekannte Außenseiter ins Visier der Ermittler rücken.
Pop meets Pulp
Was sich in der Beschreibung noch etwas wild und wirr anhört, entfaltet sich im Verlauf der Geschichte und klärt sich weitestgehend auf. Allerdings nicht, ohne weitere Fragen aufzuwerfen, für deren Antworten man auch mal zwischen den Zeilen lesen muss. Wenn man den etwas holprigen Einstieg erstmal gemeistert hat, der zwar ganz und gar nicht schlecht, sondern einfach nur „anders“ ist, was gängige Erzählstrukturen angeht, wird man immer tiefer in die stetig dichter werdenden Geschehnisse hineingezogen. Was als 80er-Hommage und Kleinstadt-Teenager-Portrait beginnt, dreht sich bald um 180 Grad. Abgedrehte Sci-Fi-Elemente, düstere Phantastik-Komponente und einen ordentliche Portion Thriller stoßen hinzu und machen dieses durchaus experimentelle und von der ersten Seite an überdurchschnittliche Werk zu etwas ganz Besonderem.
Dies liegt nicht zuletzt am ungewöhnlichen Look des Buches, was bestimmt nicht jedem Geschmack entsprechen wird. Der eigenwillige, extrem bunte Stil lässt sich schwer beschreiben. Unweigerlich musste ich von der Atmosphäre immer wieder an das empfehlenswerte Indie-Game „Oxenfree“ denken, welches ähnlich mysteriös und verschachtelt daherkommt. Nicht ganz so weit hergeholt, da die frühen Videospiele der 80er in „Ein Jahr ohne Cthulhu“ ebenfalls eine wichtige und metaphorische Rolle spielen. Zeichner Alexandre Clérisse setzt auf poppige Farben und überzeichnete, kantige Figuren. Dabei geht er sehr experimentierfreudig vor, was den surrealen Touch der Geschichte nur noch mehr unterstreicht.
Fazit:
Ich bin begeistert… kann aber verstehen, wenn Leser überfordert oder abgeschreckt sind, da sowohl Story und Stil selten klassischen Strukturen folgen. Lovecraft-Fans, beziehungsweise Freunde seiner Werke, dürften aber auf ihre Kosten kommen. Der angehängte Text des Autors liefert noch nützliches Wissen über Intention und Entstehung. Das Sahnehäubchen ist dann die tolle Aufmachung des Hardcovers, bei dem der Carlsen Verlag wirklich ganze Arbeit geleistet hat.
Thierry Smolderen, Alexandre Clérisse, Carlsen
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