Frauen im Wandel der Zeit
Ida, Marlies und Selin
Ida ist Hausmädchen, Marlies jobbt in einem Café, Selin hat gerade Abi gemacht und weiß nicht, was sie jetzt machen soll. Die jungen Frauen leben alle in Berlin – sie trennen aber jeweils ein halbes Jahrhundert voneinander. Während Ida das Ende des Ersten Weltkriegs erlebt, steckt Marlies mitten in der 68er-Revolution und Selin ist das typische Millennial: alle Türen stehen ihr offen, aber welche soll sie denn jetzt nehmen?!
Obwohl sie in derselben Stadt wohnen und im gleichen Alter sind, führen die drei jungen Frauen grundverschiedene Leben. Während Ida schon voll im Arbeitsleben steht, wohnen Marlies und Selin noch bei ihren Eltern. Marlies würde gerne Buchhändlerin werden, doch ohne Einverständnis der Eltern darf sie keine Ausbildung machen. Und Selin, deren Eltern sich selbst verwirklichen konnten, treibt ziellos mit ihrem besten Freund Finn durch Berlin.
100 Jahre in Berlin
Indem Julia Zejn diese sehr unterschiedlichen Leben in ein und derselben Kulisse spielen lässt, kommt der geschichtliche Wandel Deutschlands – und insbesondere Berlins – sehr gut zur Geltung. Es werden viele verschiedene Themen angesprochen: das Leben in Kriegszeiten, Feminismus, Ziellosigkeit, Zusammenhalt. Viele der Themen sind zwar spezifisch für ihre jeweiligen Epochen – bspw. die Nahrungsknappheit zum Ende des Ersten Weltkriegs, oder die Studentenrevolte 1968 –, trotzdem verbinden sie die Geschichten gut miteinander. Es geht viel um die Beziehungen zu den Mitmenschen. Ida wird zum Teil der Familie und hat eine starke Bindung zu ihrer Arbeitgeberin. Als deren Mann aus dem Krieg wiederkehrt, schlägt die Stimmung um. Auch bei Marlies herrscht eine angespannte Atmosphäre als sie ihren neuen Freund, einen Literaturstudenten, mit nach Hause bringt. Der Möchtegern-Revoluzzer stößt mit ihrem konservativen, Bild-lesenden Vater aneinander. Bei Selin kriselt es weniger schlimm, dafür aber an mehreren Fronten. Ihr Vater lebt in Kanada, ihre Mutter ist Food-Bloggerin und Yoga-Lehrerin und ihre beste Freundin will in Amerika studieren und hat keine Zeit mehr für sie.
Drei Frauen, drei Geschichten, eine Stadt
Obwohl sich die Widerstände im Laufe der 100 Jahre sehr verändert haben– vom Krieg über die Selbstbestimmung der Frauen bis hin zur Ziellosigkeit – lassen sich Ida, Selin und Marlies nicht unterkriegen. Damit zeigt Julia Zejn meiner Meinung nach ganz gut, dass jeder mit seinen eigenen Problemen zu kämpfen hat und dass jedes davon echt und es wert ist, darüber zu sprechen. Und dass man sich ein Bild davon machen kann, was es früher bedeutete, eine Frau zu sein.
Auch dass Zeijn die verschiedenen Geschichten geschickt miteinander einfädelt, finde ich schön. Das macht sie nicht nur auf der erzählerischen Ebene – Selin bspw. kauft bei Marlies im Buchladen ein Buch –, sondern vor allem auf der Bildebene. Es gibt eine schöne Szene, in der die drei Frauen an einem Tisch gezeigt werden.
In der Farbe liegt die Kraft
Auch wenn die drei Frauen am gleichen Tisch sitzen, erkennt man deutlich, dass sie nicht der selben Zeit angehören. Das liegt nicht nur daran, dass Selin etwa Mandelmilch trinkt oder Ida ein altmodisches Dienstmädchenkleid trägt. Jede der drei Frauen hat ihre eigene Farbe: Idas Geschichte wird mit Beige untermalt – und erinnert somit an alte Sepiafotos –, Marlies hat ein Dunkelrosa – wobei ich sofort an die alte Küche meiner Großmutter denken musste – und Selins Farbe ist ein dezentes Türkis. Die unterschiedlichen Farben helfen nicht nur, einen Überblick über die Geschichten zu behalten, sondern lassen die einzelnen Erzählstränge sehr schön ineinanderfließen, was meiner Meinung nach eine großartige Idee ist. Wie z.B. in einer Szene, in der die drei Frauen mit dem Fahrrad unterwegs sind. Ida hinten, Marlies in der Mitte und Selin vorne. Das Bild ist in insgesamt sechs Panels unterteilt. Während die unteren Panels zu ihren Zeiten gehören – und demensprechend koloriert sind –, sind die oberen Panels vertauscht. Also fährt Ida an einer Salatbar entlang, Marlies kommt an einem Herrenbekleidungsgeschäft vorbei und Selin an einer Buchhandlung. Dabei greifen sie in die anderen Panels mit ihren Vorderrädern ein und lassen die Jahre, die zwischen ihnen liegen, verschwinden und die Grenzen zwischen ihnen verschwimmen.
Aber nicht nur die Farbgebung ist in „Drei Wege“ bemerkenswert. Ich finde Zejns Zeichenstil sehr schön. Ich mag ihre sehr simplen und teilweise unscheinbaren Bilder. Die Figuren sind sehr minimalistisch gezeichnet und manchmal scheinen die Proportionen nicht zu passen. Einmal scheint Selin regelrecht in ihrem Bett zu verschwinden, so klein ist sie im Verhältnis zur Größe des Betts.
Zwei starke Geschichten und ein verfehltes Potenzial
Ähnlich wie seine Protagonistin, wirkt der Handlungsstrang von Selin etwas ziellos. Während ich mit Ida und Marlies mitfühlen kann und auch die Figuren in ihrer jeweiligen Umgebung greifbar wirken, kann ich mit Selins Geschichte wenig anfangen. Sie zeigt zwar ganz gut das Problem, das viele junge Menschen heute haben – den Wald vor lauter Möglichkeiten nicht sehen –, aber das kam mir zu kurz. Während die anderen Geschichten anhand der Einzelschicksale ihrer Protagonistinnen die politischen Gegebenheiten ihrer Zeit schildern, wirkt Selins Geschichte sehr flach und oberflächlich. Es wird zwar kurz auf wichtige politische Themen unserer Zeit eingegangen – Selins Freund Finn engagiert sich bei der Flüchtlingshilfe –, trotzdem hätte man anhand ihrer Story bestimmt weitaus mehr ansprechen können.
Fazit:
Obwohl ich Selins Handlungsstrang etwas zahm und oberflächlich erzählt finde, hat mir „Drei Wege“ von Julia Zejn sehr gut gefallen. Wie sie die Handlungsstränge der drei Protagonistinnen miteinander verbindet – sowohl auf erzählerischer als auch auf bildlicher Ebene – finde ich großartig.
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