Dr. Watson

Dr. Watson
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Marcel Scharrenbroich
10101

Comic-Couch Rezension vonApr 2018

Story

Großartig erzählt, bietet die Story neue Impulse im Genre. Ein echter „Sherlock Holmes“, der im Grunde keiner ist… eben ein echter „Dr. Watson“.

Zeichnung

Bis ins kleinste Detail authentisch und eindrucksvoll in Szene gesetzt: Vom präzisen Strich bis zur atmosphärischen Kolorierung.

„Arbeit ist das beste Mittel gegen Trauer.“

Der Detektiv

Er dürfte wohl der berühmteste Detektiv Londons… ach was, Englands… nein, der ganzen Welt sein. Mit messerscharfem Verstand, präziser Beobachtungsgabe und meisterhafter Deduktion löste er selbst die vertracktesten Fälle. Seine brillanten, oft unorthodox erscheinenden Ermittlungsmethoden und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen ließen eine schwarz-weiße Miss Marple noch blasser erscheinen, den wortgewandten französi… ups, ich meine natürlich belgischen Privatdetektiv Hercule Poirot vor Neid seinen Akzent vergessen und einen gewissen Herrn Columbo verblüfft mit den Augen… äääähm… dem Auge rollen.

Die Rede ist natürlich von Sherlock Holmes. Holmes, erdacht vom britischen Arzt und Schriftsteller Sir Arthur Ignatius Conan Doyle (1859-1930), durfte durch die Feder seines Schöpfers, im Laufe seiner Karriere in vier Romanen und 56 Kurzgeschichten seinen unvergleichlichen Spürsinn unter Beweis stellen. Das in der Baker Street 221b beheimatete kriminologische Genie, das sich in seiner freien Zeit gerne mal der Violine und bewusstseinserweiternden Substanzen widmete, löste nicht nur die Mysterien von Privatklienten. Nein, auch Scotland Yard stand er bei besonders rätselhaften, schier aussichtslosen Fällen mit Rat und Tat zur Seite. Doch auch ein Superhirn wie Sherlock Holmes brauchte mal Unterstützung bei der Verbrechensbekämpfung. Einen treuen Begleiter, dessen forensisches Wissen bereits mehr als einmal nützlich war. Einen, der ihm in der Not den Rücken freihielt. Einen, wie…

Der Arzt

…Dr. John H. Watson. Der Arzt, der nach seinem Einsatz im Zweiten Anglo-Afghanischen Krieg verwundet nach London zurückkehrte, war auf der Suche nach einer günstigen Unterkunft, um seine Schulterverletzung auszukurieren, als er auf den jungen Chemiker Holmes traf, der seinerseits auf der Suche nach einem Mitbewohner war. So teilte man sich das teure Apartment in der Baker Street 221b und auch Watsons medizinische Fachkenntnisse ergänzten sich hervorragend mit Holmes‘ deduktiver Logik. Ein Duo auf intellektueller Augenhöhe. Zudem fiel John Watson auch die Rolle des Chronisten zu, der über die zahlreichen, gemeinsamen Abenteuer berichtete und diese mit der interessierten Öffentlichkeit teilte. Eine wahre Männerfreundschaft… in die so mancher bereits mehr hineininterpretierte.

Bereits in ihrem ersten gemeinsamen Fall, „Eine Studie in Scharlachrot“, berichtete Watson von ihrem Kennenlernen im Jahr 1881 und unterstütze Holmes bei einem ungeklärten Todesfall in Lauriston Gardens, während der zweite Teil des Romans die Vorgeschichte des Mordes in einer Mormonengemeinde in Utah verdeutlichte. Ein Abenteuer des Ermittler-Duos endete allerdings tragischer als alle vorherigen Fälle… In „Das letzte Problem“ wurde Sherlock Holmes mit seinem ebenbürtigen Widersacher Professor James Moriarty konfrontiert. Bei einem Zweikampf der Kontrahenten stürzten beide den Schweizer Reichenbachfall, eine 300 Meter hohe Kaskade von sieben Wasserfällen hinab, und verschwanden in den tosenden Wassermassen.

„Nichts ist trügerischer als eine offenkundige Tatsache.“

Sherlock Holmes ist tot. Die reißenden Fälle im Kanton Bern machten eine Bergung zwar unmöglich, doch für die Öffentlichkeit gibt es keine Überlebenden und Holmes wird für tot erklärt. Eine Tatsache, mit der sich sein langjähriger Partner und Freund nicht abfinden will. Solange es keine Leiche gibt, steht für Dr. John Watson fest, dass Sherlock überlebt hat. Er MUSS überlebt haben… und er ist fest entschlossen, dies zu beweisen. Koste es, was es wolle. Ist vielleicht sogar Moriarty aus seinem vermeintlich nassen Grab zurückgekehrt und hält Holmes gefangen? Hat auch er den Sturz überlebt? Hoffnung und Trauer kämpfen in Watson um die Oberhand.

Um nicht in Lethargie zu verfallen stürzt sich der Arzt in die Arbeit, was von seiner schwangeren Gattin Mary eher besorgniserregend betrachtet wird. Sie will IHREN Ehemann zurück… IHREN John Watson. Nicht einen besessenen Mann, der einem Gespenst hinterherjagt.

Bei der Untersuchung eines Patienten fallen Dr. Watson schließlich Ungereimtheiten auf, die sofort wieder seinen detektivischen Spürsinn wecken. Mr. Appleton - ein Fotograf, der sich auf Geister-Fotografien spezialisiert hat – weist merkwürdige Vergiftungs-Symptome auf. Watson vermutet auf Grund der toxischen Stoffe, die Appleton bei der Entwicklung seiner Bilder verwendet. Da dieser aber beteuert, bei seiner Arbeit extrem vorsichtig zu sein, fällt der Verdacht schnell auf einen Konkurrenten, der sich erst kürzlich in der Gegend niedergelassen hat und nun den unliebsamen Rivalen schnell und effektiv aus dem Geschäft zu drängen versucht. Watson lässt sich von beiden Fotografen ablichten und tatsächlich geschieht das Unfassbare: Auf einem Foto erscheint der schemenhafte Geist von Sherlock Holmes. Auf Anraten seiner Frau sucht der elektrisierte Watson ein anerkanntes Medium auf. Auch dort tritt der verloren geglaubte Freund in Erscheinung und lässt seinen treuen Wegbegleiter wissen, dass sich sein Leichnam noch in London befindet… in den Händen von Mystikern, beauftragt von Moriarty. Watson muss ihn finden, um Holmes den Weg ins Jenseits zu ermöglichen.

Doch sein Weg führt ihn nicht nur zum vermeintlichen Leichnam… nein, sein Weg stellt ihn unweigerlich seiner eigenen Vergangenheit gegenüber. Ausgemergelt und halbtot findet sich Watson in einer Erdhöhle wieder… einem Massengrab. In der Hölle des vergangenen Krieges in Afghanistan wird John Watson erneut mit alten, fast vergessenen Wegbegleitern und Kameraden konfrontiert. Ebenso mit seinem alten Freund Sherlock Holmes. Verliert er den Verstand? Hat seine Trauer ihn übermannt und in eine Scheinwelt entführt, aus der es kein Entrinnen mehr gibt? Oder… zieht hier jemand ganz Anderer die undurchsichtigen Fäden?

Eine Studie in Beige

Der Autor von „Dr. Watson“, Stéphane Betbeder, gehört in seinem Heimatland Frankreich zu den gefragtesten Szeneristen. Den Einstig in die Comic-Szene ermöglichte ihm der ebenfalls sehr populäre Autor und Zeichner Christophe Bec, der mit Betbeder zusammen am Comic „Hôtel Particulier“ arbeitete. Seine Geschichte, die er in „Dr. Watson“ erzählt, könnte problemlos auch aus der Feder von Sir Arthur Conan Doyle stammen, so dicht, packend und mysteriös wird sie dargeboten. Betbeder versteht es Spannung aufzubauen und wechselt geschickt zwischen den Erzählsträngen, deren Tragweite sich erst mit zunehmender Lesezeit entfaltet. Das überraschende Finale dürfte sowohl für verblüffte Gesichter sorgen, als auch eingefleischte Sherlock Holmes-Fans ordentlich vor den Kopf stoßen. Mutig und meisterhaft inszeniert.

Die Zeichnungen von Darko Perović überzeugen ebenfalls auf ganzer Linie. Seine detaillierten und realistischen Illustrationen spiegeln perfekt das viktorianische London wieder und fangen auch die kriegerische Atmosphäre im heißen Afghanistan eindrucksvoll ein. Stimmige Sepia-Töne herrschen hier vor und verleihen in warmen Beige- und Braun-Stufen einen klassisch anmutenden Anstrich. Ganz- und doppelseitige Pracht-Bilder strotzen vor Detailverliebtheit.

Die vollgepackten, dynamischen Panels begeistern besonders auf den großformatigen Seiten, auf die der Doppel-Band in hoher Qualität gedruckt wurde. Ursprünglich in Frankreich auf zwei Bände verteilt, legt der Splitter Verlag die komplette Geschichte auf 96 Seiten in seiner „Splitter Double“-Reihe vor. Das bekannte und beliebte Alben-Format des hochwertigen Hardcovers ist ebenso Standard, wie der faire Preis.

Fazit:

Als großer Sherlock Holmes-Freund bin ich absolut begeistert von „Dr. Watson“. Man traut sich hier gewohnte Pfade zu verlassen… ähnlich wie die erfolgreiche BBC-Neuinterpretation mit Benedict Cumberbatch und Martin Freeman, die die Handlung vom viktorianischen London in die Gegenwart verlegt. Wir befinden uns im Comic zwar immer noch im England des späten 19. Jahrhunderts, doch ist auch der Weg, der hier eingeschlagen wird, sehr mutig und auch erfrischend. Dr. John Watson - den Prototyp des klassischen Sidekicks - aus dem Schatten des großen Holmes treten zu lassen und ihn zum Hauptcharakter zu befördern, funktioniert wirklich großartig und wirkt zu keiner Zeit erzwungen. Sir Arthur Conan Doyle würde mit Sicherheit den Hut vor dieser Geschichte ziehen, die in gewisser Weise den Geist von Sherlock Holmes atmet, aber gleichzeitig eine neue Route einschlägt.

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