Der fahrende/fahrige Ritter
Von trauriger Gestalt
Man könnte Alonso Quijano einfach als kauzigen, alten Kerl bezeichnen. So, wie es mit Sicherheit in jedem kleinen Dorf einen gibt. Ihr wisst schon… einer, der die dollsten Geschichten auf Lager hat, diese gerne ausschweifend ausschmückt und den Bogen nicht selten überspannt, wenn es um deren Glaubwürdigkeit geht. Das wäre aber nur eine sehr oberflächliche Beschreibung, denn der gute Alonso ist irgendwann mal falsch abgebogen und findet nun nicht mehr auf den rechten Weg zurück. Soll heißen, dass der heißblütige Literatur-Liebhaber zu tief in seine abenteuerlichen Geschichten versunken ist. So tief, dass er sich selbst für einen Ritter hält, der bereits dutzende Schlachten geschlagen hat. Heldenhaft ritt er auf dem Rücken seines treuen Pferdes Rosinante, besiegte Monster, Unholde und andere Schreckgestalten, um das Herz seiner großen Liebe zu erobern: Dulcinea del Toboso.
Freilich weiß jeder im Dorf, dass diese wilden Geschichten nur im Kopf des aufbrausenden Mannes stattfinden, doch gegen dessen Sturheit anzukämpfen, ist wie ein… tja, Kampf gegen Windmühlen.
AUF ZU NEUEN TATEN!
Um zu beweisen, dass er als Ritter noch keinen Rost angesetzt hat, macht sich Don Quijote, wie er sich selber stolz nennt, auf, Ruhm und Ehre einzuheimsen. Nicht gerade förderlich, dass der verblendete Tropf mindestens ebenso klapprig ist wie sein Gaul. So endet sein großes Abenteuer ziemlich schnell, als er sich mit den erstbesten Falschen anlegt. Geprügelt und geschunden wird er am Wegrand liegengelassen… bis sein Nachbar Sancho Panza ihn findet und zurück ins Dorf bringt. Zwar dankbar, jedoch noch immer uneinsichtig, ernennt Don Quijote seinen rundlichen Helfer kurzerhand zum Knappen. Schließlich sollte jeder gute Ritter, der etwas auf sich hält, einen haben! Auch wenn Sancho weiß, dass Alonso sich in seiner eigenen Welt befindet, willigt er ein, mit dem Möchtegern-Ritter ins Unbekannte aufzubrechen. Dass seine Holde ihm deswegen anschließend die Hölle heiß machen wird, schlägt er einfach mal in den Wind… schließlich ruft in der großen, weiten Welt das Abenteuer! Oder zumindest das, was sein Herr für die große, weite Welt hält… oder ein Abenteuer… auweia.
Weltliteratur
„Don Quijote“ ist ein wegweisendes Meisterwerk in der Literatur. Als zweiteiliges Werk 1605 und 1615 veröffentlicht und vom Spanier Miguel de Cervantes geschrieben, parodiert die Geschichte klassische Sagen um Helden und Ritter in strahlenden Rüstungen, lässt jedoch zahlreiche Interpretationsmöglichkeiten zu, wenn es um das Verhalten ihres Hauptcharakters geht. Die Phantastereien des Alonso Quijano schlicht als Wahnsinn abzutun, wäre zu einfach gedacht. Schließlich sind es die gesponnenen Abenteuer, die uns Leser erst neugierig machen und unbemerkt selbst tief ins unglaubliche Geschehen ziehen. Driften wir dabei nicht selbst aus der Realität ab? Hält uns Don Quijote gar zum Narren, indem er uns statt seines Schwertes einen Spiegel ins Gesicht hält? Setzt man sich genauer mit der Geschichte auseinander, lassen sich viele Ansätze finden, die zum Nachdenken anregen.
Interessant auch, dass gerade eine Figur, die mit Herzblut in der Welt der Ritter-Romane „lebt“, gerade dieses Genre beerdigte. Cervantes‘ „Don Quijote“ läutete nämlich eine neue Ära der modernen Literatur ein, mit der das Interesse an Heldensagen abebbte.
Neben dem Umherwandeln zwischen Realität und Fiktion, bei dem auch der Glaube eine nicht unerhebliche Rolle spielt, ist „Don Quijote“ eine Geschichte über Freundschaft. Populäre ungleiche Duos gibt es nämlich nicht erst seit dem handfesten Haudrauf-Gespann Spencer & Hill, den bleispritzenden Cops Riggs & Murtaugh oder den „bösen Jungs“ Lowrey & Burnett. Don Quijote und Sancho Panza könnten unterschiedlicher kaum sein. Der eine lang und dürr, der andere klein und rund. Der eine mit dem Kopf tief in den Wolken, der andere geerdet und im Hier und Jetzt. Dennoch, obwohl sie regelrecht Welten zu trennen scheinen, geben sie sich viel. Halt, Balance und eine - mehr oder weniger - starke Schulter, wenn diese dringend benötigt wird.
Zwillinge am Werk
Als Comic umgesetzt wurde dieses großartige Stück Literaturgeschichte nun von zwei Profis, die sich eindeutig ähnlicher sind, als die beiden Hauptfiguren bei Cervantes. Die Zwillingsbrüder Gaëtan & Paul Brizzi haben einen künstlerischen Background, der sich sehen lassen kann, produzierten die Italiener doch bereits Mitte der 1970er ihre ersten Animations-Kurzfilme. Preisgekrönt wurde schnell Roman Polanski auf die Brüder aufmerksam, für dessen Film „Piraten“ sie die Storyboards zeichneten, bevor sie 1985 beim Zeichentrick-Abenteuer „Asterix - Sieg über Cäsar“ Regie führten. Danach zog es sie nach Hollywood, wo sie ab 1994 für das Walt Disney Feature Animation Studio arbeiteten und einzelne Elemente für „Der Glöckner von Notre Dame“ und „Fantasia 2000“ beisteuerten.
Mit der 2015 veröffentlichten Graphic Novel „La Cavale du Dr. Destouches“ starteten die Brizzi-Brüder dann auf dem Comic-Markt durch. Spezialisiert auf die Umsetzung klassischer Stoffe, konnte man die wunderschönen Bleistiftzeichnungen der beiden bereits in „Tolldreiste Geschichten - Nach Honoré de Balzac“ und „Dantes Inferno“ (ebenfalls bei SPLITTER) bewundern. Hauchzart, detailliert und mit unnachahmlicher Strichführung, straffen Gaëtan & Paul Brizzi Cervantes‘ Zweiteiler zu einem flüssigen Gesamtwerk, bei dem einem die Augen übergehen. Als gelungener Kontrast findet sich Don Quijotes Blick auf die Dinge in dezenter Kolorierung wieder, während die nüchterne Realität den aufwändigen Graustufen der Brizzi-Bleistifte vorbehalten bleibt.
Wer davon ebenfalls nicht genug bekommen kann, darf sich freuen: Für den Februar 2025 hat SPLITTER bereits den Schauerroman-Klassiker „Der Untergang des Hauses Usher“ von Edgar Allan Poe inklusive weiterer Geschichten angekündigt… illustriert von den Gebrüdern Brizzi.
Fazit:
In dieser künstlerisch sehr ansprechenden Form erlebt man den Klassiker der modernen Literatur gerne noch einmal neu. Eine tragikomische, phantastische Geschichte in nicht minder phantastischen Bildern.
Miguel de Cervantes, Gaëtan Brizzi, Paul Brizzi, Gaëtan Brizzi, Paul Brizzi, Splitter
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