Von der Stadt aufs Land… des Todes wegen
„Ich machte mir einen Freund.“
-Unbekannter Verfasser
Falsch! Falsch! Alles falsch! Was dachte die berühmte Autorin Mary Shelley sich nur dabei, als sie die 1818 erstmals publizierten Zeilen ihres Schauerromans „Frankenstein oder der Moderne Prometheus“ verfasste? Dass die Wiederbelebung toten Fleisches ein Spaziergang sei? Dass eine düster-melancholische Mär über die Tatsachen hinwegtäuscht, dass ausgebuddelte Leichenteile eine unschöne Sauerei abgeben? Apropos Leichenteile: WARUM? Warum ließ sie ihren Viktor Frankenstein nicht eine noch einigermaßen frische Hülle stibitzen, damit das lästige – wenn wohl auch dramaturgisch ansprechendere – Puzzlespiel mit diversen Extremitäten hätte umgangen werden können? Und dann noch ergänzende Tierkadaver? IM LEBEN NICHT! Logiklöcher… Gott, diese Logiklöcher! Man könnte sich regelrecht in Rage schreiben!
So tut es zumindest jener empörte Verfasser ebenso empörter Zeilen, der im spärlichen Schein einer Kerze zu später Stunde an seinem Schreibtisch hockt und den Füllfederhalter rotieren lässt. Namentlich möchte er unerkannt bleiben, doch eine offene und ehrliche Meinung zum gerade beendeten Roman kann er sich nicht verkneifen. Was sich heute „dank“ moderner Medien und Netzwerke schnell zum Shitstorm hochschaukelt, ging im 19. Jahrhundert noch gesitteter vonstatten. Und im Gegensatz zu selbsternannten Hobby-Experten, die alles besser wissen, keine andere Meinung außer der eigenen akzeptieren oder nach spätestens zwei Sätzen unter der Gürtellinie krakeelend aus der Hose springen, weiß unser anonymer Schreiber wovon er da schreibt. Sogar bestens…, denn er wagte es einst selbst, Gott zu spielen.
Der namenlose Absender war in jüngeren Jahren ein eifriger Medizinstudent. Tatsächlich wollte er sich nicht damit abfinden, dass Tot gleich Tot ist. Warum sollte dieser – seiner Annahme nach – temporäre Zustand nicht „heilbar“ sein? Ende des 18. Jahrhunderts entdeckte der italienische Arzt Luigi Galvani eher zufällig, dass sich Muskeln durch statische Elektrizität zu reflexartigen Zuckungen verleiten lassen. Diese als Galvanismus bekannt gewordene Methode faszinierte den angehenden Arzt und er widmete sich schon bald mehr den Verblichenen als den Lebenden. Dass diese freilich mehr auf ihn angewiesen wären, stand auch nach Abschluss seines Studiums auf einem ganz anderen Zettel. Die Forschung am toten Fleisch stand für ihn weiterhin an erster Stelle, was ihn bei seinen Ärzte-Kollegen am Klinikum zum sonderbaren Außenseiter machte.
So zog der Arzt sich zurück. Zog aufs Land und hängte den weißen Kittel an den Nagel. Und wurde in der Abgeschiedenheit Leichenbestatter. Wusch Leichen und verfolgte seine Forschungen… und damit seine seltsame Begeisterung vom Tod. Doch er war einsam. Wünschte sich einen Vertrauten. Einen Freund. Und was macht man, wenn man keinen hat? Nein, man sucht sich keinen… man MACHT sich einen.
Horror-Queen trifft Zeichner König
Hier treffen zwei Welten aufeinander, die erstaunlich gut harmonieren. Ralf König, König der Knollennasen und verdientermaßen einer der erfolgreichsten und bekanntesten deutschen Comic-Künstler, adaptiert dabei den großen Gruselklassiker nicht einfach, sondern interpretiert ihn auf seine ganz eigene Weise. Mit „Der bewegte Mann“, „Kondom des Grauens“, „Konrad & Paul“ oder den abgedrehten Space-Abenteuern von „Barry Hoden“ schrieb und zeichnete sich der im westfälischen Soest geborene König in die Herzen unzähliger Leserinnen und Leser und ist bis heute eine Ikone bei Anhängern gleichgeschlechtlicher Liebe, die ebenso für treffsicheren Humor, wie auch für Toleranz steht… was leider Gottes noch nicht immer gänzlich in der Mitte der (vor allem nicht weltweiten) Gesellschaft angekommen zu sein scheint. Mit „Frankenstein“ wagt er sich auf neues Terrain, bleibt sich dabei aber stets treu. Obwohl der Humor in den Hintergrund tritt und die Vorlage zu keiner Zeit veralbert, ist es vor allem Königs Illustrationen zu verdanken, dass man auch diesen Band als Freund seiner Werke unbedingt im Regal stehen haben sollte. Vor allem die oft ins Leere starrenden Blicke, die hier und da auch die Leserinnen und Leser direkt anzustarren scheinen, sorgen für amüsiertes Schmunzeln. Die Figuren sind König-typisch überzeichnet, was die Story aber keinen Deut unglaubwürdiger macht. In den leisen und melancholischen Tönen geht es thematisch tiefgründiger zu, womit Ralf König absolut den Kern der berühmten Vorlage trifft. Der Ur-Roman existiert in Königs Fassung, was eine erfrischende Meta-Ebene einbringt und die Bühne für die eigene Interpretation bereitet.
Dabei ist die Farbpalette mehr als überschaubar geraten. Grün… das war’s. Ja, Grün ist nicht nur die vorherrschende, sondern die einzige Farbe. Die Koloristen Emily Zürn und Stefan Dinter haben die Bilder aber nicht einfach platt eingefärbt, sondern passende Abstufungen gefunden, um keine Monotonie entstehen zu lassen. Von gallig bis modrig ist alles vorhanden, damit eine angenehm morbide Atmosphäre entstehen kann.
Von der gelungenen Atmosphäre lebt auch Mary Shelleys Gruselklassiker. Dessen Entstehungsgeschichte ist dabei durchaus eine Erwähnung wert: 1816 reiste Mary – damals noch unter ihrem Mädchennamen Mary Godwin – mit ihrem zukünftigen Ehemann Percy Shelley an den Genfersee, um dort mit gemeinsamen Freunden einen sonnigen Sommer zu verbringen. Dieser fiel wetterbedingt aber wortwörtlich ins Wasser, weshalb man sich die Zeit im sicher überdachten Haus vertreiben musste. Gemeinsam philosophierte man dort über Dichter und Denker, was das Gesprächsthema irgendwann auf Erasmus Darwin lenkte, Naturforscher, Arzt und Großvater von Charles Darwin, dessen Forschungen die Schriftstellerin nachhaltig beeinflussten. Die Abende verbrachte die Gruppe damit, dass sie sich Gruselgeschichten erzählten, worauf die Idee im Raume stand, dass jeder von ihnen sich selbst eine Erzählung ausdenken und diese niederschreiben sollte. So kam eines zum anderen und Mary Godwin schrieb die erste Fassung ihres Romans, der seit über zweihundert Jahren fester Bestandteil klassischer Literatur ist. Ein schaurig-schönes Meisterwerk für die Ewigkeit.
Unheimlich
„Frankenstein“ ist im Zuge der CARLSEN-Reihe „Die Unheimlichen“ erschienen, in der sich Comic-Künstlerinnen und -Künstler klassischen wie modernen Schauergeschichten widmen. Herausgegeben wird die Reihe von Isabel Kreitz, die für ihre Graphic Novels „Haarmann“, „Die Sache mit Sorge“ oder „Rohrkrepierer“ (ebenfalls alle bei CARLSEN erschienen) nicht nur Lob erntete, sondern auch mit einigen Preisen ausgezeichnet wurde. Isabel Kreitz übernahm auch die künstlerische Umsetzung des ersten Bandes der „Die Unheimlichen“-Reihe: „Den Nachfolgern im Nachtleben“, nach einer Geschichte der deutschen Schriftstellerin Sarah Khan. Ralf Königs „Frankenstein“-Interpretation ist der chronologisch achte Ableger der Serie, bei der natürlich jeder Band unabhängig der weiteren Veröffentlichungen gelesen werden kann. Für das Nachwort Frankenstein kommt nach Hause konnte der deutsche Komiker, Schauspieler und erfolgreiche Synchronsprecher Monty Arnold gewonnen werden.
Fazit:
Faszination, Sehnsucht, Einsamkeit… Ralf Königs „Frankenstein“-Interpretation kommt tiefgründiger als erwartet daher, was mich persönlich sehr positiv stimmt. Der humoristische Anteil ist den überzeichneten Charakteren zu verdanken, die ganz klar Königs Handschrift tragen. Die fast schon auf eigenen Beinen stehende Geschichte - in diesem äußerlich doch recht unscheinbaren Büchlein - reduziert sich auf das Wesentliche und setzt nicht auf Effekthascherei. Keine Funny-Version eines Literatur-Klassikers, sondern eine lesenswerte Variation im König-Look.
Mary Shelley, Ralf König, Carlsen
Deine Meinung zu »Die Unheimlichen: Frankenstein«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!